"Große Liebe" heißt der Roman von Navid Kermani, der auf den ersten Blick nicht wie ein Roman daher kommt. Er besteht aus einhundert Notizen und Tagebucheinträgen.
Aufgeschrieben ist alles von einem Mann, der ganze 30 Jahre zurückgeht, zu seinem 15 Jahre alten Ich, um herauszufinden, was das damals war mit der Liebe und mit ihm. Und was es mit ihm gemacht hat – was es heute noch macht.
Die Großen halten ihn für seltsam
Auf dem Schulhof gibt es eine Ecke, in der die Großen rauchen dürfen. Er gehört definitiv nicht zu den Großen, sie hingegen schon. Deshalb versteckt er sich in den Hofpausen zwischen den breiten Rücken der Abiturienten, damit die Lehrer ihn nicht dabei erwischen, wie er dumm rumsteht und ein Mädchen anglotzt.
Er selbst raucht nicht. Er sagt auch nie etwas. Bestimmt halten ihn die Großen für seltsam. Das lässt ihn ebenso kalt, wie die Gefahr, dass er erwischt wird und seine Eltern informiert werden. Er wird sich so lange in die Raucherecke zu den Großen stellen, bis sie ihn endlich entdeckt, bis sie auch ihm ihr schönes Lächeln schenkt, und dabei die kleine, aber gut sichtbare Lücke zwischen ihren weißen Zähnen entblößt.
Er spricht sie an - und spricht übers Wetter
Er nennt sie heimlich die Schönste. Die Schönste lächelt nicht oft. Für ihn hat sie es erst einmal getan, vielleicht absichtlich, vielleicht versehentlich, er weiß es nicht und hofft auf Absicht. Auf dem Gang zwischen den beiden Schulgebäuden sind sie sich begegnet. Er hat sich verliebt.
Er stellt sich vor, dass sie einen Freund hat, oder mehrere, dass sie nach dem Abi die Stadt verlässt, und somit ihn. Dass sie bis dahin niemals ein Wort gewechselt haben werden, geschweige denn einen Kuss. Das ist alles in seinem Kopf.
Eines Tages spricht sie ihn an. Nur sie beide, niemand sonst steht in der Raucherecke. Und dann reden sie. Über das Wetter. Seit Tagen will er ihr seine Liebe gestehen und er lässt die erste Gelegenheit, mit ihr zu sprechen, mit einem Kommentar über den Frühling verstreichen. In seinem Kopf fällt alles zusammen. Aber dann lächelt sie.
Buch:
"Große Liebe" von Navid Kermani, erschienen bei Hanser (Hc) und später bei Rowohlt (Tb), angeblich 100 Seiten – zur Erklärung: 100 Tage lang hat der Autor jeweils eine Seite geschrieben. Die Seiten sind aber unterschiedlich lang. Es sind also 100 Seiten bzw. Kapitel verteilt auf viel mehr Buchseiten.
Autor:
Navid Kermani wurde 1967 in Siegen geboren. Er ist habilitierter Orientalist und lebt als Schriftsteller in Köln. Für sein akademisches und literarisches Werk wurde er u. a. mit dem Kleist-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet. 2015 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.