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Kaputte Wahlplakate, zerstochene Autoreifen und Drohanrufe: Lokalpolitiker*innen sind besonders häufig Hass ausgeliefert. Nicole Piechotta ist ehrenamtliche Bürgermeisterin von Oldenburg. Sie erklärt, warum sie ihren Job mit Leib und Seele liebt, obwohl sie Anfeindungen und Sexismus ausgesetzt ist und kein Geld damit verdient.

Weil es gehäuft Angriffe auf Lokalpolitiker gibt, haben sich Bürgermeister*innen aus ganz Deutschland in Berlin für ein Treffen zusammengefunden. 40 Prozent der ehrenamtlichen Bürgermeister*innen oder ihre Angehörigen wurden schon einmal angefeindet. Das zeigt eine aktuelle repräsentative Umfrage, die die Körber-Stiftung beim Meinungsforschungsinstitut Forsa in Auftrag gegeben hat. Deshalb diskutieren die Bürgermeister*innen nun ihre Situation und den Umgang mit der angespannten Lage.

"Inzwischen ist in Deutschland jeder elfte Bürgermeister laut unserer Analyse Opfer von körperlicher Gewalt geworden."
Christian Erhardt-Maciejewski, Chefredakteur vom Fachmagazin Kommunal

Die ehrenamtliche Bürgermeisterin von Oldenburg, Nicole Piechotta (SPD), fühlt sich inzwischen auch manchmal unsicher. Beim Joggen packt sie das mulmige Gefühl, sie könnte möglicherweise Opfer eines Angriffs werden.

"Unsere Jusos haben sich ernsthaft überlegt, den Nachtinfostand nicht mehr zu machen, weil sie einfach Angst haben, dass sie Anfeindungen ausgesetzt sind."
Nicole Piechotta, Bürgermeisterin von Oldenburg

So erging es nämlich SPD-Europapolitiker Matthias Ecke. Er wurde in Dresden beim Plakatieren angegriffen und schwer verletzt.

An Nicole gehen derartige Nachrichten nicht spurlos vorbei. Und auch die Jusos (Jungen Solzialist*innen), die Jugendorganisation der SPD, überlegt, Wahlkampfveranstaltungen abzusagen. Normalerweise stehen die Jusos vor den Wahlen gerne auf der Partystraße von Oldenburg und bringen ohne Stand, aber mit Wahlmaterial jungen Leuten die jeweilige Wahl näher. In diesem Jahr sind sich die Jusos aber noch nicht sicher, ob sie das Risiko von Angriffen zu groß empfinden.

Selbst hat Nicole Piechotta besonders sexistische Aussagen über ihre Rocklänge oder ihr Aussehen über sich ergehen lassen müssen. Dennoch, sagt sie, liebt sie ihr Ehrenamt als Bürgermeisterin von Oldenburg.

Bürgermeisterin sein ist auch schön

Nicole Piechotta kennt die Schwierigkeiten, die Lokalpolitik aktuell mit sich bringt. Für sie überwiegen aber die positiven Seiten als Bürgermeisterin. Zuletzt hat Nicole ein einhundertster Geburtstag, den sie als Bürgermeisterin im Dienst besuchte, sehr berührt. Das Oldenburger Geburtstagskind freute sich so über Nicoles Anwesenheit, dass sie allen ihren Freund*innen bei einer Ansprache davon erzählte, dass die Bürgermeisterin anwesend sei.

"Für mich ist es total toll, wenn man einfach auf Veranstaltungen gehen kann, die Leute von der Stadt begeistern kann und die sich einfach darüber freuen."
Nicole Piechotta, Bürgermeisterin von Oldenburg

Nicole begeistert sich für ihre Stadt Oldenburg und freut sich, andere Menschen mit ihrer Begeisterung auf Veranstaltungen anstecken zu können. So wie Nicole gibt es noch weitere knapp 11.000 Bürgermeister*innen, die ihr Amt in Deutschland gerne ausführen. Die meisten dieser Amtsinhaber*innen stemmen diese Aufgabe neben ihrer ganz normalen Arbeit als Ehrenamt.

Schlechte Bezahlung und Nachwuchssorgen bei Lokalpolitikern

Ehrenamtliche Bürgermeister*innen bekommen zwar keinen Lohn, aber je nach Gemeinde oder Stadtgröße eine Aufwandsentschädigung. Ehrenamtlich tätige Bürgermeister*innen im Bundesland Brandenburg können beispielsweise aktuell in einer Gemeinde mit bis zu 500 Einwohner*innen eine Aufwandsentschädigung von höchstens 320 Euro monatlich, in Gemeinden mit über 10.000 Einwohner*innen höchstens 2120 Euro monatlich bekommen. Für das Ehrenamt können auch schnell mal 20-30 Stunden die Woche anfallen. Die seltenen hauptberuflichen Bürgermeister*innen verdienen allerdings meistens gut in ihrem Beruf, erklärt Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Clara Neubert.

"Jede*r vierte ehrenamtliche Bürgermeister*in hat schon einmal darüber nachgedacht, mit der Politik aufzuhören."
Clara Neubert über zu wenig Brügermeister*innen in Deutschland

Möglicherweise wird es aber bald unbesetzte Bürgermeister*innenposten geben. Christian Erhardt-Maciejewski, Chefredakteur vom Fachmagazin Kommunal, schätzt, dass schon in den nächsten Jahren etwa 500 bis 600 Posten in Deutschland unbesetzt bleiben könnten. Dazu kommt, dass jede*r vierte ehrenamtliche Bürgermeister*in schon einmal darüber nachgedacht hat, aufzuhören. Das würde das Problem noch verschärfen, weiß Clara Neubert.

Die Repräsentation durch Bürgermeister*innen ist auch auf einer anderen Ebene ein großes Problem. Denn neben der ohnehin schon schwindenden Anzahl an Freiwilligen, die sich zur Wahl aufstellen lassen, mangelt es besonders an Frauen und jungen Lokalpolitiker*innen. Das hat zur Folge, dass mindestens mittelalte Männer besonders häufig die Interessen einer Gemeinde vertreten.

Mit einer anderen Entlohnung könnte das Amt von Bürgermeister*innen möglicherweise wieder attraktiver für Bewerber*innen werden, denkt Politikwissenschaftlerin Christina-Marie Juen. Denn nicht jede*r habe die Möglichkeit, so ein Ehrenamt aus rein idealistischen Gründen wie bei Nicole Piochotta auszufüllen.

Hinweis der Redaktion: Leider ist uns bei Minute 07:40 in der Folge "Gewalt und Hass | Warum Bürgermeister trotzdem nicht aufgeben" unseres Unboxing News-Podcasts vom 15.05.2024 ein Fehler unterlaufen. Das gegebene Beispiel einer Aufwandsentschädigung bezieht sich auf ehrenamtliche Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung in Brandenburg an der Havel. Ehrenamtlich tätige Bürgermeister*innen im Bundesland Brandenburg können aktuell in einer Gemeinde mit bis zu 500 Einwohner*innen eine Aufwandsentschädigung von höchstens 320 Euro monatlich, in Gemeinden mit über 10.000 Einwohner*innen höchstens 2120 Euro monatlich bekommen.

Ihr habt Anregungen, Wünsche, Themenideen? Dann schreibt uns an Info@deutschlandfunknova.de

Shownotes
Gewalt und Hass
Warum Bürgermeister trotzdem nicht aufgeben
vom 15. Mai 2024
Moderatorin: 
Ilka Knigge
Gast: 
Nicole Piechotta, Bürgermeisterin von Oldenburg
Gesprächspartnerin: 
Clara Neubert, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin
Experte: 
Christian Erhardt-Maciejewski, Chefredakteur vom Fachmagazin Kommunal
Expertin: 
Christina-Marie Juen, Politikwissenschaftlerin