Bei häuslicher Gewalt suchen sich inzwischen mehr Frauen Hilfe. Doch die Politik tut nicht, was nötig wäre, sagt Sylvia Haller von der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser.
Im vergangenen Jahr sind etwas weniger Fälle von Partnerschaftsgewalt erfasst worden – ein Rückgang um 2,5 Prozent im Vergleich zu 2020. Das geht aus einer Statistik hervor, die das Bundeskriminalamt einen Tag vor dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen vorgestellt hat.
Sylvia Haller, Mitarbeiterin im Autonomen Frauenhaus Heidelberg und Vertreterin der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser, sagt: Die Zahl belegt erst mal nur, dass weniger Fälle erfasst und dokumentiert wurden. Dass es heute tatsächlich weniger Gewalt gibt, ließe sich daraus nicht ableiten. Eine Erklärung für den Rückgang erfasster Fälle könnte sein, dass im Corona-Jahr 2021 die Möglichkeit eingeschränkt war, sich unbemerkt Unterstützung zu suchen.
Die Statistik bezieht sich zwar allgemein auf Gewalt in Partnerschaften. Sie belegt aber auch: Rund 80 Prozent der von Partnerschaftsgewalt Betroffenen sind Frauen.
Zwei von drei weiblichen Opfern gehen nicht zur Polizei
Unabhängig davon, ob etwas mehr oder weniger Fälle erfasst werden, sei die Dunkelziffer sehr hoch, sagt Sylvia Haller. "Es gibt sehr viele Fälle, die strafrechtlich nicht relevant oder medizinisch nicht dokumentierbar sind." Laut Bundesfamilienministerin Lisa Paus ist davon auszugehen, dass derzeit zwei Drittel der weiblichen Opfer nicht zur Polizei gehen.
Als "medizinisch nicht dokumentierbar" bezeichnet Sylvia Haller zum Beispiel die Fälle, in denen (vor allem) die Frauen psychisch angegriffen oder geschwächt werden, etwa durch soziale Isolation, infrage stellen des eigenen Erlebens oder Angriffe auf die Ausübung der Mutterrolle.
"Frauenhäuser gibt es jetzt seit 40 Jahren, und es gibt immer noch keine bundesweit einheitlich gesetzliche Regelung zur Finanzierung."
Besonders kritisch für Frauen seien Situationen, in denen sie auf den Mann treffen, den sie eigentlich schon verlassen haben – zum Beispiel bei einer Gerichtsverhandlung oder wenn die Frauen die Kinder an den Mann übergeben, wenn er Umgang mit ihnen haben darf.
Frauen begleiten und beschützen
Auch die Phase, wenn Frauen beschließen, den Mann zu verlassen und er das mitbekommt, kann bedrohlich sein, sagt Sylvia Haller. "In solchen Situationen müssen die Frauen gut begleitet und geschützt werden."
Sylvia Haller bemerkt, dass mehr Frauen als früher ihre Rechte kennen und den Weg in Frauenhäuser oder Beratungsstellen finden. Politisch gebe es aber Nachholbedarf.
"Frauenhäuser gibt es jetzt seit 40 Jahren, und es gibt immer noch keine bundesweit einheitlich gesetzliche Regelung zur Finanzierung." Auch gebe es Konstellationen, in denen Frauen für ihren Aufenthalt im Frauenhaus selbst aufkommen müssen. "Das ist eine untragbare Situation", sagt Sylvia Haller, "Gewaltschutz ist keine Sozialleistung, sondern eine Pflichtaufgabe des Staates."
Unternehmen für Partnerschaftsgewalt sensibilisieren
Einen anderen Ansatz verfolgt das Berliner Start-up Frontline: Es bietet Trainings für Führungskräfte, Personalabteilungen und interessierte Mitarbeitende an, um sie für das Thema zu sensibilisieren und sie in die Lage zu versetzen, Anzeichen von Gewalt zu erkennen und darauf richtig zu reagieren.
Mitarbeiterin Ba Linh Le sagt: Das Thema in der Arbeitswelt anzugehen, sei sehr wichtig. Denn die Menschen verbringen viel Zeit am Arbeitsplatz und haben dort soziale Kontakte, womöglich Freundschaften. Der Arbeitsplatz sei also ein guter Ort, um Anzeichen häuslicher Gewalt zu erkennen, aber auch um konkrete Unterstützung für Opfer zu leisten. Arbeitgeber könnten den Mitarbeitenden Zeit geben, um Ärzte und Beratungsstellen aufzusuchen oder Gerichtstermine wahrzunehmen.
Ba Linh Le nennt Warnzeichen, die auf häusliche Gewalt hindeuten können:
- Körperliche Anzeichen wie Verletzungen
- Veränderte Erscheinung, um Verletzungen zu verstecken, zum Beispiel verstärktes Make-up oder längere Kleidung
- Auffälliges Verhalten, zum Beispiel Trauer oder Bestürztheit
Der Verein Arbeiterwohlfahrt listet zehn Anzeichen auf, die auf häusliche Gewalt hindeuten.
Wer bei einer Kollegin oder einem Kollegen Anzeichen für häusliche Gewalt entdeckt, sollte das nicht unbedingt sofort ansprechen, sagt Ba Linh Le von Frontline. Das Unternehmen hat mit Opfern häuslicher Gewalt gesprochen und sie gefragt, wie ein gutes Vorgehen aussehen könnte. Die Antwort: "Zuerst sich selbst fragen, ob du die beste Person bist, dieses Gespräch zu führen."
Bei einer nicht ausreichenden Vertrauensbasis sei es besser, eine andere Person darauf hinzuweisen, sodass diese das Gespräch mit dem potenziellen Opfer häuslicher Gewalt suchen kann.
Und dann: Nicht direkt mit dem Thema häusliche Gewalt einsteigen. Lieber erst mal allgemein fragen: Wie geht es dir?
Anlaufstellen für Opfer häuslicher Gewalt sind:
- Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 - 116 016 (24 Stunden, kostenfrei)
- Der Weiße Ring: telefonisch unter 116 006 (täglich von 7 bis 22 Uhr) oder über die Onlineberatung.