Extremer Reichtum und extreme Armut nehmen zu. Diese wachsende Ungleichheit ist einer der Hauptgründe für einen abnehmenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das nehmen nicht nur wir so wahr, sondern auch Forschende wie die Soziologin Andrea Hense.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist gefährdet, aber welche Entwicklungen haben dazu beigetragen? Eine zentrale Entwicklung ist die wachsende Ungleichheit, sagt Andrea Hense. Sie ist Soziologin am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am überregionalen Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Das Auseinanderdriften von gesellschaftlichen Gruppen nehme zu und an den gesellschaftlichen Rändern werden extremer Reichtum und extreme Armut größer. Das nehmen die Menschen wahr und sagen in Umfragen, dass sie dadurch auch den Zusammenhalt gefährdet sehen, so Andrea Hense.
"Das sehen wir ganz stark, dass es da einen sehr großen Wunsch gibt bei unseren Befragten: Kann ich denn da irgendwie von oben politisch gegensteuern?"
Hinzu kommt eine zweite Entwicklung: Die verschiedenen Lebenswelten gesellschaftlicher Gruppen entkoppeln sich, erklärt Andrea Hense. Auch hier wieder die Reichen, die unter sich bleiben und sich nach außen – teils negativ - abgrenzen gegenüber den Armen. Aber es findet auch eine Entkopplung der Menschen mit guter Bildung von denen mit weniger Bildung statt. Sehr deutlich wird es entlang der Parteizugehörigkeit oder -anhängerschaft: Bürger*innen, die eher sich der Grünen-Partei zugehörig fühlen, grenzen sich stark von AfD-Wähler*innen ab.
Diese Entkopplung wird aber weniger stark zwischen Ost- und Westdeutschen gemessen, sagt die Soziologin. In dem Zusammenhang definieren sich die Menschen eher über die positiven Zugehörigkeitsgefühle zu der jeweiligen Gruppe als durch negative Abgrenzungen.
Was bedeutet der Begriff gesellschaftlicher Zusammenhalt?
Grundsätzlich hat der Begriff Zusammenhalt unterschiedliche Bedeutungen für die Menschen. Deshalb untersucht Andrea Hense in ihrer Forschung verschiedene Aspekte von Zusammenhalt. Bei ihren Befragungen haben die Teilnehmenden aus ihren Erfahrungen und unterschiedlichen Bereichen berichtet und erklärt, wie sie die Gesellschaft wahrnehmen. Aus diesen Antworten haben die Gesellschaftsforschenden Typologien entwickelt.
Daraus haben sich sechs verschiedene Typen von Menschen ergeben, die eine bestimmte Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenhalt haben. Diese Typen unterscheiden sich sehr deutlich, sagt Andrea Hense:
- Typ 1 hat die Vorstellung, dass die Gesellschaft eine feste, hierarchisch strukturierte Ordnung ist. Zu diesem Typ gehören Menschen, die sich in ihrem Leben eher untergeordnet haben und das auch von anderen erwarten. Sie üben etwa soziale Kontrolle aus, beschreibt die Soziologin. Sozialen Wandel erleben sie negativ und lehnen beispielsweise das Gendern ab. Dieser Typ würde vor allem in der Gemeinschaft unter Gleichgesinnten bleiben und sich nach außen negativ abgrenzen.
- Typ 2 steht außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Menschen, die diesem Typ zugeordnet werden, stehen unter einem Anpassungsdruck, weil sie beispielsweise arbeitslos sind oder Einwander*innen. Sie wollen schnell Arbeit finden oder schnell die deutsche Sprache lernen und gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen. Sie kämpfen quasi ständig um die gesellschaftliche Zugehörigkeit und erleben Ausgrenzung. "Eine gute Gesellschaft ist für sie eine, an der sie auch teilhaben können", sagt Andrea Hense.
- Typ 3 sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt in gemeinsamen Projekten, die die Einzelnen auch selbst organisieren. Das können beispielsweise Kulturprojekte oder politische Initiativen sein, sagt Andrea Hense. Diese Menschen möchten gerne mit Gleichgesinnten zusammenarbeiten, aber nicht wie Typ 1 sich abgrenzen, sondern sie beziehen sich auf andere außerhalb der Gemeinschaft und verhalten sich solidarisch und setzten sich beispielsweise für Gleichberechtigung ein.
- Typ 4 sind Menschen, die Zusammenhalt eher zweckgebunden betrachten. Die Einzelnen verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen und arbeiten da zusammen, wo es ihrem eigenen Vorteil nützt. Diese Menschen stimmen einer leistungsorientierten Ungleichheit eher zu. Sie setzen sich dort für die Gesellschaft ein, wo es ihrem eigenen Aufstieg, ihrer Anerkennung und ihren Interessen nützt.
- Typ 5 betrachtet den Zusammenhalt eher dynamisch. Diese Menschen erzeugen Zusammenhalt durch Argumentieren, Abwägen, gemeinsam Beratschlagen, Verständigung, Hinterfragen und Aushandeln. Sie haben eine große Bereitschaft dafür, auch Abweichungen anzunehmen und sehen sich selbst eher in der Rolle eines Vermittlers oder einer Vermittlerin. Sie sind eher Kritiker*innen des Typs 4. Häufig sind unter ihnen Menschen, die sich politisch engagieren oder in der Verwaltung arbeiten.
- Typ 6 sind Menschen, denen der solidarische Zusammenhalt besonders wichtig ist, insbesondere durch die Zusammenarbeit mit Ungleichen, sagt Andrea Hense. "Sie gestalten ganz stark den gesellschaftlichen Zusammenhalt in ganz verschiedenen Funktionen, sei es in der Erwerbsarbeit, in der Freiwilligenarbeit, in der Kirche, in der Familie. Es sind beispielsweise Betriebsratsvorsitzende oder Vorstände von Vereinen", sagt die Soziologin. Dabei handele es sich um Menschen, die möglichst viele andere Menschen einbeziehen und Ungleichheit abbauen möchten. Sie sehen in der steigenden Ungleichheit auch ein Problem für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, so Andrea Hense. Sie unterstützen andere Menschen uneigennützig und auf Augenhöhe. Kollegialität und Solidarität sind für sie wichtige Voraussetzungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt fehlt
Nimmt der Zusammenhalt in der Gesellschaft ab oder fehlt ganz, dann nehmen Konflikte zu, sagt Andrea Hense. Deshalb hält sie es auch für wichtig, dass wir genau diese Fähigkeiten lernen, die uns befähigen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt herzustellen.
"Wo lernen wir überhaupt so was? Auf Augenhöhe anderen zuhören, Interesse für andere Sichtweisen, eine Diskussionskultur ohne Vorverurteilung?"
Aus der Befragung weiß Andrea Hense, dass viele Teilnehmende sich wünschen, Einfluss nehmen zu können auf diese Entwicklung, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
Wie aber kann die Politik direkt Einfluss darauf nehmen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken? Andrea Hense hält das für schwierig, glaubt aber, dass es Möglichkeiten gibt, das Auseinanderdriften von sozialen Gruppen aufzuhalten, Ungleichheiten nicht weiter zu vergrößern, sondern abzubauen, und zu untersuchen, wo Gruppen ausgegrenzt werden. Zum Beispiel im Bildungsbereich nicht die akademische anderen Ausbildungen vorzuziehen.
"Sicherlich geht es auch darum, möglichst viele Möglichkeiten zu schaffen, wo man sich auch begegnen kann in ganz unterschiedlicher Weise."
Eine wichtige politische Maßnahme könnte sein, Bildungseinrichtungen zu schaffen, in denen ganz unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen, sich wahrnehmen und austauschen können. Die Soziologin berichtet, dass die Menschen in Dörfern, die sich engagieren und dort Räume schaffen wollen, oft an der Bürokratie scheitern. Hier könnte die Politik mit Bürokratieabbau den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.
Eine gute Keimzelle für gesellschaftlichen Zusammenhalt könnten auch Wohnprojekte sein, in denen unterschiedliche Menschen zusammenkommen und dort ständig das Aushandeln von Kompromissen erleben. "Vorausgesetzt, dass man sich seiner privilegierten Position bewusst ist und sich nicht besonders negativ nach außen abgrenzt", ergänzt die Soziologin. Denn, gibt Andrea Hense zu bedenken, die Menschen müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um in ein Wohnprojekt aufgenommen zu werden. Sie bilden nicht die gesamte Gesellschaft ab und können durchaus Gruppen von Gleichgesinnten sein, die sich nach außen abgrenzen.
Zusammenhalt lernen und raus aus der Bubble
Bedenklich findet Andrea Hense, wenn Menschen außer ihrer eigenen "Bubble" keine anderen Orte mehr haben, um anderen Menschen zu begegnen. Die Soziologin hält es für wichtig, dass wir bereits im Kindergarten und in der Schule lernen, auf andere Menschen zuzugehen. Das wäre aus ihrer Sicht die Basis für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Später sollten diese sozialen Kompetenzen des Aushandelns, der Solidarität und des Aufeinanderzugehens gepflegt werden, damit wir sie nicht wieder verlernen.
Mitbestimmungsrechte stärken
Grundvoraussetzungen für die Bereitschaft, sich zu engagieren für den Zusammenhalt, sind die Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Mitbestimmung. "Denn wenn ich immer wieder erlebe, dass ich investiere, mich auf andere einlasse, selbst aber nicht gesehen, nicht gehört werde, keine Mitsprache habe und quasi wahrnehme, dass es egal ist und so etwas wie Machtlosigkeit empfinde, dann reagiere ich natürlich auch entweder mit Rückzug oder Protest darauf", sagt Andrea Hense.