Israel bombardiert Gaza erneut massiv. Benjamin Netanjahu steht innenpolitisch unter Druck, spaltet aber auch das Land: Tausende protestieren gegen seine Politik. Wer ist Benjamin Netanjahu? Welche Strategie verfolgt er und was sind seine Ziele?
Die Waffenruhe ist vorbei, seit Tagen bombardiert Israel den Gazastreifen wieder. Ab jetzt werden Verhandlungen nur noch unter Beschuss stattfinden, sagt Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.
Mehr als 500 Menschen sollen nach palästinensischen Angaben im Gazastreifen getötet worden sein, seit Israel seine Angriffe in der Nacht zu Dienstag dort wieder verstärkt hat. Unter den Opfern sollen viele Zivillisten und Kinder sein. Unabhängig überprüfen lassen sich die Zahlen nicht.
Netanjahu ist überzeugt von seiner Strategie
Israel begründet die Offensive damit, dass die Hamas nicht alle Geiseln freigelassen hat. Laut Regierung war in der Waffenruhe-Vereinbarung, die am 19. Januar 2025 begann und fast zwei Monate dauerte, klargestellt worden, dass eine militärische Reaktion folgen würde, falls die Geiseln nicht freikommen.
Daher sieht Israel die Offensive als notwendig an, um Druck auf die Hamas auszuüben, meint Julio Segador, ARD-Korrespondent für Israel, für die palästinensischen Gebiete und das Westjordanland.
"Netanjahu ist davon überzeugt, dass seine Strategie die richtige ist. Dass man versucht, mit starkem militärischen Druck die Hamas zu Zugeständnissen zu bewegen."
Israels Premierminister Benjamin Netanjahu ist überzeugt, dass starker militärischer Druck die Hamas zu Zugeständnissen zwingt, insbesondere zur Freilassung der Geiseln. Allerdings zeigt die Bilanz, dass bisher nur acht Geiseln durch militärische Aktionen befreit wurden, während über hundert durch Verhandlungen freikamen. Dennoch hält er an seiner Strategie fest, weshalb die Offensive fortgesetzt wird.
Tod des Bruders ein einschneidenes Erlebnis
Netanjahu zählt zu den umstrittensten Politikern in Israels Geschichte. Seine Anhänger nennen ihn König Bibi, während viele ihn vehement ablehnen. Geboren 1949 in Tel Aviv, zog er als Schüler mit seiner Familie in die USA, wo er später studierte. Seine Erfahrungen als Soldat einer Spezialeinheit und enge Kontakte zu den USA prägen seine politische Laufbahn bis heute, so Matthis Dierkes aus unserem Unboxing-News-Team.
Sein Bruder war ebenfalls Soldat. 1976 kam er bei einer Geiselbefreiung ums Leben. Netanjahu bezeichnete diesen Verlust als tiefen Einschnitt für sich und seine Familie, der auch seine spätere politische Haltung maßgeblich beeinflusste.
"In meinem politischen Leben bin ich dreimal gestorben. Bei all diesen drei Toden wurden Nachrufe auf mich geschrieben."
Netanjahu trat später in die Politik ein und stieg in der konservativen Likud-Partei auf. 1996 wurde er mit Mitte 40 erstmals Israels Regierungschef – der jüngste in der Geschichte des Landes. Seine erste Amtszeit war jedoch kurz, bereits nach drei Jahren wurde er wieder abgewählt.
Das war aber nicht sein politisches Ende, Netanjahu erlebte mehrere politische Comebacks. 2009 kehrte er als Regierungschef zurück und regierte bis 2021, länger als jeder seiner Vorgänger. Viele hielten sein politisches Ende für besiegelt, doch es gelang ihm erneut ein Comeback. Über seine Karriere sagte Netanjahu einmal: "In meinem politischen Leben bin ich dreimal gestorben. Bei all diesen drei Toden wurden Nachrufe auf mich geschrieben."
Seit 2022 ist Netanjahu erneut Israels Regierungschef. Er sicherte sich die Macht mit Unterstützung religiöser und ultranationalistischer Parteien. Seine Regierung gilt als die rechteste und religiöseste in der Geschichte Israels.
Vorwürfe der Untreue, Betrugs und Bestechlichkeit
Netanjahu ist in Israel umstritten und seit Jahren mit Ermittlungen konfrontiert. Die Vorwürfe gegen ihn umfassen Untreue, Betrug und Bestechlichkeit. So soll er von Geschäftsleuten Luxusgeschenke wie Schmuck, Champagner und Zigarren erhalten haben. Nach jahrelangen Ermittlungen wurde er 2019 offiziell angeklagt.
Der amtierende Ministerpräsident wies die Vorwürfe zurück und sprach von einer politischen Kampagne gegen ihn. Er behauptete, dass Polizei, Staatsanwälte und linke Journalisten sich verschworen hätten, um ihn mit haltlosen Anschuldigungen zu stürzen und das rechte Lager langfristig von der Macht fernzuhalten.
Neue Offensive stabilisiert seine Position
Aktuell ermittelt der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag gegen Netanjahu wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein Haftbefehl wurde bereits beantragt. Die Vorwürfe beziehen sich auf das Vorgehen Israels im Gazastreifen nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 sowie auf die anhaltenden Militäraktionen.
"Mit dem neuen Feuer in Gaza hat er auch seine Koalition wieder stabilisiert."
Beobachtende sehen in Netanjahus Kriegsführung auch ein Mittel zum Machterhalt. Seine Koalition, insbesondere rechtsextreme Partner, haben mit dem Bruch gedroht, falls es eine zweite Waffenruhe gäbe, so unser Korrespondent.
Da ein neuer Haushalt verabschiedet werden musste, war er auf ihre Unterstützung angewiesen. Denn in Israel gilt eine Sondervereinbarung: Wenn der Haushalt nicht verabschiedet wird, dann gibt es automatisch Neuwahlen. Mit der Wiederaufnahme der Offensive sicherte er sich ihre Rückkehr und stabilisierte seine Regierung.
Netanjahu – Macht- und Instinktpolitiker
Netanjahu ist ein außergewöhnlicher Macht- und Instinktpolitiker, der stets opportun agiert, um seine Position zu sichern. "Er weiß immer, in welche Richtung sein Fähnchen wehen muss, um seine Position zu stärken", erklärt ARD-Korrespondent Julio Segador. Trotz Krisen und Widerständen hielt er sich immer wieder an der Spitze und führte Israel mit unterschiedlichsten Koalitionen.
Aktuell dient ihm eine rechtsextreme Regierung, um an der Macht zu bleiben. Einen klaren Nachfolger, der seine Dominanz in der israelischen Politik infrage stellen könnte, sieht unser Korrespondent derzeit nicht.
"Da können noch so viele Millionen Menschen auf die Straße gehen, ich sehe nicht, dass diese Mehrheit nicht halten wird. Insofern sitzt er fest im Sattel."
Als Land ist Israel stark polarisiert. Tausende demonstrieren gegen das Ende der Waffenruhe, doch Netanjahu hat weiterhin Rückhalt. Die Spaltung im Land bestand schon vor dem Hamas-Angriff im Oktober 2023 – sichtbar in fünf Wahlen binnen vier Jahren.
Entscheidend für Netanjahu ist seine Mehrheit in der Knesset, die er jetzt dank rechtsextremer Parteien sicher hat. Da können noch so viele Millionen Menschen auf die Straße gehen. Ich sehe nicht, dass diese Mehrheit nicht halten wird. Insofern sitzt er fest im Sattel", so Julio Segador.
Kein langfristiger Plan für Israel und die Region
Es ist schwer zu behaupten, dass Netanjahu bewusst den Krieg fortführt, um keinen Frieden zu erreichen, meint unser Korrespondent. Doch der Krieg nützt ihm politisch. Solange dieser andauert, wird die Frage nach seiner Verantwortung für den Hamas-Angriff nicht thematisiert.
Geheimdienste und Militär haben Fehler in ihrem Bereich eingeräumt – die Politik noch nicht. "Netanjahu wird keine Verantwortung übernehmen, solange der Krieg geht. Das hat er sehr deutlich gesagt", so Julio Segador. Zudem lenkt der Krieg von seinem laufenden Korruptionsprozess ab, was ihm ebenfalls zugutekommt.
"Netanjahu wird keine Verantwortung übernehmen, solange der Krieg geht. Das hat sehr deutlich gesagt."
Für die Zukunft Israels und der Region scheint Netanjahu keinen langfristigen Plan zu haben. Sein Hauptziel ist der Machterhalt. Strategische Konzepte sind nicht erkennbar. Mit Blick auf die für Ende nächsten Jahres geplanten Wahlen bleibt unklar, ob sie stattfinden – sollte der Krieg andauern, könnte Netanjahu sie unter dem Vorwand der Sicherheitslage verschieben.
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