In der jungen Bundesrepublik Deutschland gibt es in den Nachkriegsjahren viel zu tun. Woran es aber mangelt, sind Arbeitskräfte. Arbeitgebende und die Politik kommen auf die Idee, Menschen aus dem Ausland an zu werben – und sie nach zwei Jahren Arbeit wieder zurückzuschicken.
In den 1950er-Jahren entwickelt sich die Wirtschaft in der westdeutschen Bundesrepublik erstaunlich gut. Mithilfe der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und einer milliardenschweren Anschubfinanzierung aus den USA sind die Verlierer des Zweiten Weltkriegs innerhalb von zehn Jahren eine ernst zu nehmende Wirtschaftsmacht in Europa geworden.
Mehr Arbeitskräfte für das Wirtschaftswachstum
Aber der Motor dieses Aufschwungs beginnt zu stottern. Denn: Es fehlen ausreichend Arbeitskräfte. Als Folge gerät die Produktivität in der Industrie, in Landwirtschaft und auch im Bergbau ins Stocken.
Arbeitskräfte sind in der jungen Bundesrepublik begehrt, was für die Arbeitgeber auch bedeutet, dass sie höhere Löhne zahlen müssen. Das führt zu der Idee: Menschen aus anderen Ländern sollen nach Deutschland kommen, um die Wirtschaft hier weiter voranzutreiben.
Menschen als wirtschaftliches Gut
Die ersten sogenannten Gastarbeitenden kommen aus Italien, Griechenland, Spanien und Portugal. Sie leben und arbeiten unter unmenschlichen Bedingungen. Ihre Familien dürfen nicht nachkommen, und von ihrem Lohn müssen sie in die westdeutschen Sozialsysteme einzahlen. Von den Sozialleistungen haben sie aber nur wenig, weil sie nach zwei Jahren zwangsweise in ihre Heimat zurückgeschickt werden.
Anwerbeabkommen mit der Türkei: Win-win für alle?
Die Begrenzung auf zwei Jahre, keine Integrationsmaßnahmen und kein Familiennachzug gilt auch am 30. Oktober 1961 bei der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei.
Dabei hat auch die Regierung in Ankara ein Interesse an dem Vertrag. Denn: In der Türkei treffen geburtenstarke Jahrgänge auf eine hohe Arbeitslosigkeit, was die Jobsuche für viele Arbeitnehmenden scheinbar unmöglich macht.
Das Anwerbeabkommen mit Deutschland hat für die Türkei daher einen doppelten Nutzen. Einerseits suchen die Arbeitnehmenden in der Türkei nicht nach Arbeit, und andererseits schicken sie das in der Bundesrepublik verdiente Geld in die Türkei zurück, um ihre Familien zu unterstützen.
Menschen aus dem Ausland dürfen bleiben
Dadurch – so die Erwartung – soll der Nato-Partner Türkei auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges ökonomisch stabilisiert werden. Nach drei Jahren wird das Abkommen dann überarbeitet, weil sich die Arbeitgebenden beschweren, alle zwei Jahre einen Teil der Belegschaft wechseln zu müssen. In der Neufassung des Anwerbeabkommens wird also vereinbart, dass es keine Rückkehrpflicht mehr gibt und dass die Familienangehörigen nachziehen dürfen.
Ihr hört in Eine Stunde History:
- Wirtschaftshistorikerin Heike Knortz sieht weniger ökonomische als außenpolitische Aspekte, die zur Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften geführt haben.
- Historiker Stefan Zeppenfeld hat sich in einer Studie mit der Lebens- und Arbeitswirklichkeit von sogenannten Gastarbeitenden in Berlin auseinandergesetzt.
- Ismail Boro war einer der ersten Gastarbeiter, die in die Bundesrepublik kamen.
- Politologin Efsun Kızılay erzählt, wie die Erfahrungen der ersten Generation der Gastarbeiterinnen und -arbeiter in den Familien noch nachwirken.
- Deutschlandfunk-Nova-Geschichtsexperte Matthias von Hellfeld beschreibt die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen der 1950er- und 1960er-Jahre.
- Deutschlandfunk-Nova-Reporter Armin Himmelrath schildert in einem fiktiven Großvater-Enkel-Gespräch, wie es den damaligen Gastarbeitenden in ihrer neuen Heimat ergangen ist.