Manche müssen einfach immer hinschauen - wenn ein Unfall passiert, beispielsweise. Gaffer stören im schlimmsten Fall die Rettung und gefährden die Verletzten. Eine mögliche Erklärung fürs Gaffen könnte ein archaisches Bedürfnis sein.
Zerquetschte Autos, Verletzte, Rettungskräfte: In solchen Situationen fällt manchen nichts anderes ein, als mit dem Handy draufzuhalten. Heute (13.11.) hat das Kabinett beschlossen, Gaffer in Zukunft härter zu bestrafen: Bis zu zwei Jahre Gefängnis soll es für diejenigen geben, die Tote filmen oder fotografieren. Bislang schützt das Strafrecht nur lebende Menschen vor entwürdigenden Bildern.
Ausnahmesituationen interessieren uns
Bloß: Warum begaffen und filmen manche Unfälle überhaupt? Astrid von Friesen hat darauf eine Antwort. Die Integrative Gestalt-, Paar- und Trauma-Therapeutin nach dem Heilpraktikergesetz sagt: "In einem kleinen Dorf, wo ich mal wohnte, kannte man sich. Aber wenn ein fremdes Auto durch das Dorf fuhr, guckte natürlich jeder hinterher."
Was sie damit sagen will: Ausnahmesituationen sind immer interessant für uns, schon aus dem "archaischen Bedürfnis" heraus, uns selbst zu schützen.
"Alles, was jenseits der Normalität zu sehen ist, dahin schauen wir."
Doch einem Auto hinterherzuschauen und ein zertrümmertes Auto mit Verletzten oder vielleicht Toten zu filmen ist nicht dasselbe. Das sieht auch Astrid von Friesen so. Sie glaubt, die Ursache des Gaffens sei ein primitiver Neid aus unserer Kindheit: Der Geschwisterneid.
“Psychoanalytisch könnte man sagen, es ist ein ganz tiefer Geschwisterneid. Viele Menschen haben von ihren Eltern ungenügend viel Liebe und Aufmerksamkeit bekommen. Und die verkraften es schlichtweg nicht, wenn anderen, zum Beispiel Verletzten, von guten Menschen - also von Polizisten, Helfern, Notärzten - geholfen wird."
Wer nicht genügend Liebe und Zuwendung von seinen Eltern erfahren habe, könne es einfach nicht verkraften, wenn andere Zuwendung erfahren, sagt Astrid von Friesen. Selbst, wenn es sich dabei um Unfallopfer handelt.
Gaffen ist wie eine Sucht
Eine andere These setzt auf eine neurobiologische Erklärung: Wer einen Unfall und das damit verbundene Leid des anderen sieht, bekommt einen Kick. Dabei wird Dopamin ausgeschüttet.
Um Gaffer aber doch vom Glotzen abzubringen, greifen Polizisten teils zu drastischen Methoden - so wie Stefan Pfeiffer, dem bei einem Einsatz auf der Autobahn der Kragen platzte: Berühmt wurde sein beherzter Einsatz, als er gaffende LKW-Fahrer zur Rede stellte. Die Männer hatten Fotos von einem Unfall bei Nürnberg gemacht. Stefan Pfeiffer konfrontierte sie daraufhin mit dem Unfall, holte sie aus ihren LKW und brachte sie zum Toten.
"Es ist für uns durchaus mal eine Möglichkeit, die Leute mit ihrem Verhalten zu konfrontieren. Nicht einfach nur 128,50 Euro zu verlangen und sie weiterfahren zu lassen. [...] Wir stellen fest, dass dieses direkte Konfrontieren mit der Situation die Leute schockiert und ihnen auch klar macht: Das hier ist hier kein Spiel, sondern bittere Realität."
Es hat den Anschein, dass einige den Ernst der Lage nicht verstehen, sagt der Autobahnpolizist. Er sagt, es sei durchaus eine Möglichkeit, die Leute mit ihrem Verhalten zu konfrontieren und sie in gewisser Weise zu schockieren.
Auch Astrid von Friesen beobachtet eine solche Entwicklung: "Ich habe zunehmend den Eindruck, dass auch Erwachsene nicht mehr zwischen Realität und Fiktion bewusst unterscheiden können." Manche verhielten sich so, als ob der Mensch, der da vielleicht blutend auf dem Boden liegt, ein Statist sei - "und nicht ein lebender Mensch, der Schmerzen hat und Hilfe benötigt".
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Update 15.11.2019, 09:30:
In einer früheren Version dieses Artikels, hieß es Astrid von Friesen sei "Psychotherapeutin" bzw. "Psychoanalytikerin". Nach eigenen Angaben ist sie "Integrative Gestalt-, Paar- und Trauma-Therapeutin nach dem Heilpraktikergesetz". Sie hat Erziehungswissenschaft mit den Fächern Psychologie und Soziologie studiert.
Weil im Audio zu diesem Text von "Psychotherapeutin" die Rede ist, haben wir es entfernt.
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