Nicht zu lange fackeln, spontan sein und sogar ein Risiko eingehen – evolutionär gesehen könnten ADHS-typische Eigenschaften von Vorteil gewesen sein. In einer Welt, die Stillsitzen und Durchziehen bevorzugt, gelten sie allerdings als Problem.

Unkonzentriertheit und Unruhe, vielleicht auch Unpünktlichkeit bis hin zur Unzuverlässigkeit. ADHS ist mit vielen Vorurteilen besetzt. Wer sich mit dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom intensiver beschäftigt, weiß aber auch, dass Menschen mit ADHS viele Stärken haben, beispielsweise blitzschnell reagieren, kreativ sein und um die Ecke denken können.

Die Relativität von Stärken und Schwächen

Auch die Forschung versucht ADHS immer mehr auf die Spur zu kommen. Laut einem Forscherteam der University of Pennsylvania spricht einiges dafür, dass ADHS evolutionär gesehen in bestimmten Situationen Vorteile mit sich gebracht hat.

Um das herauszufinden, hat das Forscherteam ein Experiment mit knapp 460 Teilnehmenden durchgeführt. Nur 24 von ihnen hatten eine offizielle ADHS-Diagnose. Allerdings sollten die Teilnehmenden vor Experimentbeginn Angaben zum eigenen Verhalten und zu Symptomen machen. Auf Basis dieser Selbstauskünfte hat das Forschungsteam rund 200 der 460 Teilnehmenden, also knapp der Hälfte, einen signifikant erhöhten ADHS-Wert zugesprochen.

Die Aufgabe der Teilnehmenden war es, in einem Online-Spiel innerhalb von acht Minuten so viele Beeren wie möglich zu sammeln. Wie im echten Wald war es auch im Spiel so, dass es immer weniger Beeren gab, je stärker ein Busch abgeerntet war.

Die Versuchsteilnehmenden konnten sich jedoch entscheiden: Suche ich akribisch am abgerupften Busch oder halte ich nach einem anderen Busch Ausschau, an dem sich noch viele Beeren befinden.

"Menschen mit ADHS haben beim Beerensammeln schneller den Busch gewechselt und hatten am Ende mehr Beeren im Korb als die Leute ohne ADHS-Symptome."
Aglaia Dane, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin

Einschränkend zu ihren Erkenntnissen sagen die Forschenden der University of Pennsylvania, dass diese sich natürlich auf ein Spiel beziehen und nicht auf das wahre Leben. Gleichzeitig sind sie überzeugt, dass ableitend von ihren Ergebnissen einiges dafürspricht, dass ADHS evolutionär Vorteile hatte.

"Bei Studien über Menschen oder Populationen mit nomadischem Lebensstil wurden vermehrt Gene gefunden, die mit ADHS assoziiert sind."
Aglaia Dane, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin

(Un-)Gewünschte Eigenschaften

Eine Studie zeigt ebenfalls, dass ADHS-Symptome wie Impulsivität und Unruhe vor Tausenden von Jahren in einem Nomadenleben zum Teil vorteilhaft waren. Denn diese Menschen haben mit ihrer impulsiveren Art dafür gesorgt, dass zum Beispiel neue Jagd- oder Sammelgebiete erschlossen wurden.

"Die Probleme für Menschen mit ADHS sind nicht nur auf die eigene Impulsivität oder Zerstreutheit zurückzuführen, sondern auch auf den modernen Lebensstil."
Aglaia Dane, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin

In unserer Welt jedoch, in der es eher darum geht, stundenlang im Büro, in der Uni oder Schule auf einem Stuhl zu sitzen, gelten Impulsivität und körperliche Schnelligkeit eher als nachteilig. Mit anderen Worten: Menschen können diese Attribute im Alltag oft nicht ausleben.

Studien wie die der University of Pennsylvania liefern also nicht nur Erkenntnisse über ADHS, aus ihnen lassen sich auch gesellschaftskritische Ansätze ziehen, die die vermeintliche Normalität oder zumindest Normativität unserer Welt infrage stellen.

Shownotes
Impulsiv und schnell
ADHS könnte evolutionär von Vorteil gewesen sein
vom 22. Februar 2024
Moderation: 
Anke van der Weyer
Gesprächspartnerin: 
Aglaia Dane, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin.
    Quellen des Beitrags: