Früher stellte David bei mutmaßlichen sexuellen Übergriffen eher das Urteilsvermögen der Opfer infrage. Heute weiß er: Das war falsch. Vincent-Immanuel Herr und Fikri Anıl Altıntaş, HeForShe-Botschafter für die UN, sehen auch Männer in der Pflicht, wenn es um Feminismus geht.
Dem Mitglied einer Band, die David bereits von mehreren Konzerten kennt, wird vorgeworfen, eine Konzertbesucherin vergewaltigt zu haben. David kann sich einfach nicht vorstellen, dass das wahr sein soll. Seine spontane Reaktion: Die Zuschauerin muss überreagiert haben. Anders kann sich David nicht vorstellen, wie es zu diesem Vorwurf gekommen sein soll.
Auf dem Festival "Monis Rache" wurden in den Jahren 2016 und 2018 intime Videoaufnahmen von Festivalbesucherinnen auf einem Dixie-Klo gemacht. Die Spannervideos wurden später auf Pornoseiten verbreitet. Der mutmaßliche Täter: ein Crewmitglied.
Wahrheiten, die Mann verdrängt
Für David war es schwer vorstellbar, dass das passiert sein soll. Er diskutiert mit einer Freundin über die Vorfälle und verteidigt seine Sichtweise. Bis heute ist er dieser Freundin dankbar, dass sie ihm nicht die Freundschaft gekündigt hat, sagt er. Vielmehr habe sie seinen Erkenntnisweg kritisch-wohlwollend begleitet, so David heute.
"Es gab zwei Momente, in denen ich mich wie ein 'typischer Mann' verhalten habe. Wo mir dann aufgefallen ist, was an meinem Denken und Handeln problematisch war."
Vincent-Immanuel Herr ist HeForShe-Botschafter der UN. Die HeForShe-Bewegung ist eine Initative, die alle – das heißt: alle Geschlechter – dazu auffordert, sich für Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen. Herr tut dies, indem er Workshops gibt und Texte veröffentlicht. Dabei stellt er immer wieder fest, dass Männer oft Schwierigkeiten haben, das Thema zu verstehen – und zwar, weil sie auf einer theoretischen Ebene bleiben.
Eine Art "Herausrede-Kultur" sei unter Männern verbreitet: Viele beharrten darauf, dass es um die Geschlechtergerechtigkeit doch gar nicht so schlecht stehe, dass der Gender-Pay-Gap nicht so groß sei und dass Frauen, die nicht an die Spitze eines Unternehmens kämen, dies selbst auch nicht wollten.
"Es ist so ein bisschen eine Art 'Herausrede-Kultur', wo sich zeigt, dass sie [Männer] das Thema nicht so richtig an sich heranlassen – vielleicht auch emotional nicht verstehen oder auch nicht verstehen wollen."
Eine Methode, die Vincent-Immanuel Herr und andere Botschafter gefunden haben, um bei Männern ein Gefühl der Betroffenheit hervorzurufen: Sie konfrontieren sie mit dem Alltagssexismus aus ihrem eigenen Umfeld.
Männer mit dem Alltagssexismus aus ihrem direkten Umfeld konfrontieren
Dabei kann es sich um Vorfälle aus dem Arbeits- oder auch aus dem privaten Umfeld handeln, also um das, was Partnerinnen, Freundinnen oder weibliche Familienmitglieder erlebt haben. Eigene Betroffenheit sei deswegen hilfreich, weil daraus eine Bereitschaft für Engagement resultieren könne, sagt der HeForShe-Botschafter.
"Wir haben als Männer eine Verantwortung. Wir können nicht auf neutralem Boden stehen. Es reicht nicht zu sagen, ich selbst bin kein Sexist. Wir müssen aktiv etwas machen."
Fikri Anıl Altıntaş ist Autor und beschäftigt sich viel mit Männlichkeiten, auch mit muslimischen und deutsch-türkischen. Auch er ist ein HeForShe-Botschafter. Er stellt fest, dass es Unterschiede gibt, wie pro-feministisch ein Mann handeln kann. Pro-feministisch bedeutet, dass man sich als Mann für Geschlechtergerechtigkeit einsetzt, ohne gleich den ganzen Feminismus für sich zu vereinnahmen.
"Es gibt viele Männer, die unterschiedliche Bezugsgrößen haben, die ihre Männlichkeit in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Das heißt, wie alt ist die Person, was ist der akademische Grad der Eltern, was ist der eigene Bildungsgrad, lebt die Personen in Armut oder nicht. Das sind alles Dinge, die die Männlichkeitsbilder beeinflussen."
Oft seien Debatten über feministische Themen akademisiert. Und für Menschen, die beispielsweise eine Migrationsgeschichte haben, gibt es möglicherweise oft ganz andere Hürden, um diese Themen für sich zu entdecken und sich zu engagieren, sagt Fikri Anıl Altıntaş. Er geht oft an Schulen, um dort über Feminismus zu sprechen. Dabei nutzt er Themen wie Musik oder Fußball, um mit Schülern über feministische Themen sprechen zu können.
Pro-feministische Antworten geben, die besser sind als frauenfeindliche Aussagen im Netz
Der Autor geht davon aus, dass etwa ein Drittel der Männer in Deutschland – etwa durch Multiplikatoren wie ihn – gar nicht erst erreicht werden können. Ein weiteres Drittel der Männer glaube, dass es keinen Bedarf zum Handeln gibt. "Weil sie sagen: 'Es ist alles okay'", so Fikri Anıl Altıntaş.
Ebenfalls etwa ein Drittel der Männer könnten sich seiner Meinung nach bei dem Thema in den sozialen Medien radikalisieren – und genau für diese Gruppe von Männern müsse man Angebote schaffen, sagt der Autor. Er möchte dieser Gruppe pro-feministische Aussagen und Antworten an die Hand geben, die besser sind als die frauenfeindlichen Aussagen, die sie von Influencern – er nennt zum Beispiel Andrew Tate – im Netz konsumieren können.
Einfach mal laut "Autsch!" sagen
Wie man als Mann einschreiten kann, wenn andere Männer sich sexistisch verhalten, dafür hat Vincent-Immanuel Herr einen guten Tipp, den er selbst mal von einer Beraterin und Trainerin bekommen hat: Manchmal reiche es, laut "Autsch!" zu sagen, um anderen zu zeigen, dass sie mit einem Spruch gerade eine sexistische Grenzüberschreitung begangen haben. Das wäre ein möglicher erster Schritt, um bei Alltagssexismus aktiv zu werden, ohne dass das beispielsweise zum Ende einer Freundschaft führen müsse.
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