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Das Wort "Demokratie" übersetzen wir für gewöhnlich mit "Herrschaft des Volkes". Problematisch wird es jedoch dann, wenn angeblich dort Demokratie existiert, wo es kein Volk gibt. Genau das ist der Fall in der Europäischen Union, die eben nicht aus einem Volk besteht. Auf diese und daraus folgende Schwierigkeiten verweist Martin Saar. Thomas Spielbüchler beschäftigt sich mit dem postkolonialen Erbe, das die EU noch immer nicht bewältigt hat.

Es war der große Vordenker Thomas Hobbes, dessen Theorie sich bis heute durchgesetzt hat: Nur ein Volk kann als Einheit in der Demokratie entscheiden, wie es regiert werden will. Weil genau das in der Europäischen Union nicht möglich ist – es gibt weder ein Volk noch eine Regierung – müsse Demokratie völlig neu gedacht werden, so der Sozialphilosoph Martin Saar. Er verweist auf die Gelbwesten-Proteste und die "Fridays for Future"-Demonstrationen.

Saar will damit ausdrücken, dass Europa aus einer Vielzahl von Akteuren besteht und wir dies künftig auch so akzeptieren sollten. Andersherum: Von der alles blockierenden Einstimmigkeit auszugehen, würde in eine Sackgasse führen.

"Demokratie ist eher der Name für irgendetwas, was viele miteinander tun, was sie zum Handeln befähigt, ohne dass eine Einheit, ein Volk dabei herausspringt."
Martin Saar, Sozialphilosoph

Der zweite Redner, Thomas Spielbüchler befasst sich als Historiker mit der Verantwortung, die große Nationen in der EU, wie Großbritannien, Frankreich, Belgien und auch Deutschland, gegenüber ihren früheren Kolonien wahrnehmen.

Koloniale Nachwirkungen großer EU-Mitgliedsstaaten

Spielbüchler rechnet zwar vor, welche riesigen Summen in die Entwicklungshilfe fließen, doch arbeitet er auch heraus, dass Europas Mächte dabei stets ihr eigenes Wohl im Blick haben.

"Hier hat sich gezeigt: Europas Interessen haben – wenn es um die europäische Verantwortung Afrika gegenüber geht – schlicht und einfach Vorrang."
Thomas Spielbüchler, Historiker

Inzwischen, so Spielbüchler, treibe dieses Vorgehen gar seltsame Blüten. Nur ein Beispiel von vielen: Wer in dem Herkunftsland des Kaffees, Äthiopien, heute einen Kaffee bestellt, bekommt Instant-Kaffee aus Europa aufgetischt. Spielbüchler will damit sagen: Die EU zieht Rohstoffe aus Afrika ab, verarbeitet sie und macht große Geschäfte damit. Gerade Deutschland rühmt sich bekanntlich als führende Exportnation.

Martin Saar ist Sozialphilosoph an der Frankfurter Goethe-Universität. Vorgetragen hat er über: "Muss die Demokratie erst noch demokratisiert werden?". Veranstalter war das "Center for Applied European Studies" an der Frankfurt University of Applied Sciences am 17. Mai 2019.

Thomas Spielbüchler ist Historiker an der Universität Linz. Sein Thema lautet: "Die EU als postkoloniale Verantwortungsgemeinschaft". Er sprach auf einem Bürgerforum der Universität Hildesheim am 26. April 2019.

Shownotes
Die Krise der EU
Demokratie neu denken
vom 07. Juli 2019
Moderator: 
Hans-Jürgen Bartsch
Vortragende: 
Martin Saar, Sozialphilosoph, Universität Frankfurt; Thomas Spielbüchler, Historiker, Universitäten Linz und Innsbruck