In einem Kiosk in einer Hamburger Bahnstation sitzt ein Mann und wartet auf uns und unsere Geschichten. Den Kiosk hat Christoph Busch gemietet und an die Tür ein Plakat mit diesem Hinweis gehängt: "Ich höre ihnen zu. Jetzt gleich oder ein anderes Mal." Viele kommen vorbei und erzählen ihm ihre Geschichten. Einfach so und obwohl sie ihn nicht kennen.
Vor der Seitenscheibe des Kiosks auf dem Hamburger Bahnsteig steht Iwan. Er promoviert zurzeit in Darmstadt und möchte seine Geschichte erzählen. Sie handelt davon, wie Iwan immer wieder von Menschen in seinem Werdegang behindert wurde.
Eine der Geschichten: Iwan ist doch begabt
In der Schule vermittelte ihm eine Lehrerin, dass er nicht gut genug sei, später im Studium habe ihm sein Mentor Steine in den Weg gelegt. Doch die Einschätzungen seiner Lehrerin und seines Mentors seien offenbar falsch gewesen, beschreibt Iwan den Wendepunkt in seiner Geschichte. Denn er habe kürzlich einen Wissenschaftswettbewerb gewonnen. Und nun werde er außerdem bald nach Genf ziehen, um dort am Nuklearforschungszentrum CERN zu arbeiten. Eine Geschichte mit Happy End also, die Christoph Busch heute hört. Und vielleicht landet diese Geschichte in einem Buch, das aus diesen und vielen weiteren Geschichten entstehen könnte.
"Ich höre Ihnen zu. Jetzt gleich oder ein anderes Mal"
Christoph Busch ist Drehbuchautor und hat den Kiosk gemietet. Nun befindet sich hier sein Erzählbüro – wie er den Kiosk nennt - das Teil seines Projektes "Das Ohr" ist. In den Regalen des Ladenlokals stehen hinter den Fenstern Bilder, aufgeschlagene Bücher und einige Skulpturen. Oben am Dach hängt eine rote Flagge mit einem Ohr. Seit Januar 2018 hört Christoph Busch hier allen zu, die etwas zu erzählen haben. Kostenlos, einfach so und weil er auf der Suche nach Geschichten ist. Täglich zwischen 9:30 und 14:30 Uhr wartet er in seinem Kiosk darauf, dass Leute zu ihm kommen, um ihm von sich zu erzählen. Hier zu schreiben und Leuten zuzuhören war seine Idee, als er an dem leerstehenden Kiosk vorbei kam.
"Da hing an diesem Kiosk ein Schild, dass der zu vermieten sei. So ganz vage Idee: Ich setze mich hier hin und schreibe, und vielleicht gibt’s auch neue Geschichten... Und dann war der Kiosk tatsächlich noch zu haben!"
Viele halten den Besuch im Ohr für eine gute Idee. Und erzählen oft traurige Geschichten über sich und ihr Leben, sagt Christoph Busch.
"Die traurigen bis katastrophalen Geschichten überwiegen schon!"
Warum die Leute erzählen
Und so, wie er die Ausgangssituationen beschreibt, kommen scheinbar auch viele zu ihm, weil er einfach viel unbefangener mit dem Erzählten umgehen kann, als die Menschen im direkten Umfeld der Beteiligten.
"Erstens, weil die Leute keinen Therapeuten wollen – den haben sie vielleicht schon. Und, weil im Bekanntenkreis jemand den Liebeskummer oder sonst was einfach nicht mehr hören kann. Und dann komme ich, und ich rede einfach drauflos."
Aber auch das bloße Mitteilungsbedürfnis sei für viele Besucher wichtig erzählt Busch weiter. Wie bei Marc, der heute vorbeikommt. Er ist 34, fährt Geldtransporte und kommt extra aus Niedersachsen, um Busch seine Geschichte zu erzählen.
Darin geht es für Marc um die Frage, was wirklich wichtig ist im Leben. Das hat Marc - zumindest für sich - vor einem Jahr herausgefunden. Seit dem weiß er, dass er sich für andere engagieren möchte und damit glücklich wird.
"Am 7.12.2017 habe ich zum ersten Mal einem unbekannten Menschen eine Freude gemacht! Es war ein Hinz & Kuntz-Verkäufer. Ich bin zur Würstchenbude, habe zwei Euro auf den Tisch gelegt und gesagt: Eine Wurst bitte für den Herrn da hinten!"
Und auch die Idee, Teil eines Buches zu werden - was ebenfalls auf einem Zettel am Kiosk zu lesen ist - scheint attraktiv zu sein. Iwan, der Mann, der demnächst im CERN anfängt, wollte seine Geschichte beispielsweise deshalb hier erzählen.
Ob Busch die Mindestmietzeit bis Mai durchhält, weiß er noch nicht – er habe jetzt schon das Bedürfnis, die vielen Geschichten zu sortieren, sagt er. Hier im Kiosk kommt er dazu jedenfalls nicht.