Die Diagnose "Internetsucht" gibt es offiziell erst seit 2018. Schon werden, gefördert von der Bundesregierung, groß angelegte Projekte durchgeführt wie zum Beispiel "Oasis" am Landschaftsverband Westfalen-Lippe-Universitätsklinikum Bochum. Der Psychiater Jan Kalbitzer warnt in seinem Vortrag vor solchen – wie er sie nennt – "Modediagnosen", die von einem fatalen Schubladen-Denken zeugen.
Das Bochumer Projekt des Landschaftsverband Westfalen-Lippe-Universitätsklinikums sucht auf seiner Internet-Plattform aktiv nach Internet-Süchtigen, um mit diesen therapeutisch arbeiten zu können. Wörtlich heißt es dort, dass sich "möglichst viele" melden sollten.
Genau solche Entwicklungen meint Jan Kalbitzer, wenn er davon spricht, dass seine Kollegen die Menschen viel zu leichtfertig in Schubladen stecken würden und diese dann nie mehr dort herauskämen. Viele Psychiater sind deshalb für Jan Kalbitzer "nicht mehr valide".
"Eine einmal getroffene Diagnose gilt dann immer. Egal, was der Mensch erlebt. Damit werden wir dem Menschen überhaupt nicht mehr gerecht."
Jan Kalbitzer geht inzwischen so weit, dass er sich fragt, ob die Psychiater selbst verrückt seien. Sie wollten sich ganz genau absichern, arbeiteten deshalb in starren Kategorien und träfen Diagnosen, die immer reproduzierbar seien – egal, wer sie anwende – Hauptsache, man stehe immer schön wissenschaftlich da.
Definition von Sucht
Unter anderem greift er die Behauptung von Forschenden an, bei dauerhafter Online-Nutzung werde Dopamin ausgeschüttet und deshalb sei diese unter Umständen als Krankheit zu behandeln. "Wenn Sie jemanden anbaggern und die oder der ihnen einen Korb gibt, dann schütten sie genauso Dopamin aus", argumentiert er dagegen.
Aus seinen langjährigen Forschungen führt er viele Fälle an, in denen Userinnen und User nach Jahren intensiver Online-Nutzung irgendwann von selbst damit aufgehört haben. Dies allein widerspreche der allzu häufig getroffenen Diagnose "Sucht". Ganz anders hierzu Alkoholiker oder Heroinabhängige, diese könnten ihrer Sucht nicht ohne Hilfe von außen entkommen.
Der Vortrag:
Jan Kalbitzer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er hat versuchsweise und wahrheitsgemäß einen Fragebogen der Deutschen Angestellten-Krankenkasse, DAK zum Thema "Internetsucht" ausgefüllt. Danach sei ihm von "sogenannten Experten" geraten worden, sich dringend in medizinische Hände zu begeben. Für ihn ist das alles eine Farce.
Er selbst leitet an den Oberberg-Kliniken die "Stressmedizin" und forscht als wissenschaftlicher Leiter im Ladenburger Kolleg "Internet und seelische Gesundheit". Jan Kalbitzer hat am 11. Dezember 2018 für die Daimler und Benz Stiftung vorgetragen. Sein Thema nannte er: "Was macht das Internet: krank, gesund oder einfach nur die Psychiater verrückt?"