Die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg sind je nach Nation unterschiedlich. Wie sich die Ukraine, Russland, die baltischen Staaten oder Polen an die Verbrechen und die Opfer des Kriegs erinnern, sollte auch in Deutschland bekannter sein, findet die Historikerin Franziska Davies.
Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine haben zwei Besatzungsmächte erlebt. Nach der Besatzung durch die deutsche Wehrmacht folgte jeweils die durch die Sowjetunion. Und obwohl die deutsche Wehrmacht und die SS grauenvolle Verbrechen begangen haben, nimmt die Erinnerung an diese Taten und ihre Opfer in der deutschen Gedenktradition wenig Raum ein, sagt Franziska Davies.
Massenmord durch Erschießen
Zum Symbol für die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas wurde im deutschen Gedenken das Vernichtungslager Auschwitz. Dabei war auf dem Gebiet der heutigen Ukraine eine andere Form der Ermordung verbreitet: Der sogenannte "Holocaust by bullets".
"Wenn ich die Studierenden frage, ob sie Babyn Yar kennen, haben sie vielleicht schon mal davon gehört. Aber dafür, dass es die größte Erschießungsstätte sowjetischen Jüdinnen und Juden im Vernichtungskrieg war, ist selbst dieser bekannteste Ort relativ unbekannt."
1941 greift Deutschland die Ukraine an. Es gibt, wie Davies sagt, eine "perfide Arbeitsteilung": Die deutsche Wehrmacht nimmt Orte militärisch ein, die SS rückt nach, um Menschen, die sie als "lebensunwert" betrachtet, zu ermorden.
Leerstellen im Erinnern
Heute geht man davon aus, dass von sechs Millionen Holocaust-Opfern etwa zwei Millionen Sowjet-Bürger waren, davon wiederum stammte eine Million Menschen aus der Ukraine.
"Das ist eine weitere Leerstelle: In der Ukraine und in Polen sterben mehr Menschen unter der deutschen Besatzung als in der militärische Auseinandersetzung."
Bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung beteiligen sich ukrainische Nationalisten, indem sie, wie etwa in Lwiw, jüdische Menschen zu den Erschießungsorten bringen. Das wiederum sorgt für Ambivalenzen im Gedenken der Ukraine. Welcher Opfer wird auf welche Weise gedacht? Der jüdischen oder der nicht-jüdischen Bevölkerung?
Auch die Geschichte der sogenannten "Feuerdörfer" beschreibt Davies exemplarisch. Allein in der Ukraine wurden 670 Dörfer und Städte vollkommen ausgelöscht, verbrannt und dem Erdboden gleichgemacht. Es gab kaum Überlebende, die von diesen Taten berichten konnten. Bei dem Massaker in Korjukiwa wurden 6700 Einwohner erschossen und verbrannt, als vermeintliche "Strafaktion" gegen Partisanen.
Wieso der Holocaust nach 1945 tabuisiert wird
Nach Kriegsende spricht Stalin davon, dass das russische Volk den Sieg gegen den Faschismus errungen hat. Das jüdische Erleben der deutschen Besatzung, der Holocaust, wird in der Sowjetunion tabuisiert. Stattdessen wird der ermordeten "friedlichen sowjetischen Bürger" gedacht.
Die Ukraine beginnt nach ihrer Unabhängigkeit 1991, auch der Ermordung der jüdischen Bevölkerung zu gedenken - allerdings wird die ukrainische Beteiligung an diesen Verbrechen häufig ausgespart.
"Eine große gesellschaftliche Debatte über die Opfer des Stalinismus ist ausgeblieben."
Franziska Davies ist akademische Rätin auf Zeit am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihr gemeinsam mit Katja Makhotina verfasstes Buch "Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs" ist 2022 erschienen.
Ihren Vortrag mit dem Titel "Deutungskämpfe. Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in der Ukraine und in Russland“ hat sie am 25. Januar 2023 an der Universität Tübingen gehalten, im Rahmen der Vorlesungsreihe "Brennpunkt Ukraine. Geschichte, Kultur und Politik einer europäischen Nation".