In ihrem kühlen wie aufregenden Roman "Intimitäten" erzählt Katie Kitamura von einer namenlosen Dolmetscherin, die in Den Haag für die UN für einen Kriegsverbrecher übersetzt. Sie versucht, in den neuen Job hineinzuwachsen und gleichzeitig Freundschaften zu schließen und eine Beziehung zu führen. Es fällt ihr schwer.
Und jetzt ist sie hier, mitten in der Nacht, in einer Zelle im Gefängnis der Vereinten Nationen in Den Haag. Endlich wird sie gebraucht, beziehungsweise: endlich wird ihr Dienst gebraucht. Sie wird dolmetschen. Wort für Wort. So präzise wie möglich. Für einen Mann, der Mädchen und Frauen unter Zwang verheiratet, sexuell missbraucht und versklavt hat. Ihm werden außerdem Folter, die Verfolgung Andersgläubiger und das Schänden von heiligen Gräbern vorgeworfen. Das internationale Interesse an seiner Festnahme, Auslieferung an die Niederlande und Anklage ist enorm hoch.
"Und dann explodiert der Angeklagte, in einer Sprache, die die Dolmetscherin nicht spricht."
"Ich kläre Sie jetzt über Ihre Rechte auf" ist das erste, was sie dem Angeklagten ins Französische übersetzt, leise, ihm zugewandt, nah an seinem Ohr. Kaum, dass ihn ihre Worte erreicht haben, reißt er den Kopf weg, als wäre sie ihm lästig – wie ein aufdringliches Insekt. Sie übersetzt unbeirrt leise weiter, während der Angeklagte neben ihr laut ein- und ausatmet. Und dann ist alles gesagt und der Beamte erkundigt sich nach Fragen. Die Stimme der Dolmetscherin verklingt, verebbt, verpufft. Und plötzlich ist es ganz still im Raum. Und dann explodiert der Angeklagte, in einer Sprache, die die Dolmetscherin nicht spricht.
Zwischen den Zeilen lesen
Die Beschreibungen von dem, was in der Geschichte vor sich geht, sind nüchtern und klar. So, als würde Katie Kitamura es uns, den Leser*innen leicht machen wollen mit dem Verstehen. Und natürlich führt sie uns absichtlich in die Irre, denn schnell wird offenbar, wie fein die Nuancen selbst bei aller Deutlichkeit sein können. Da steht ganz viel zwischen den Zeilen.
"Sie ist nur ein Werkzeug. Und schlimmer noch: Das ist sie wohl nicht nur im Gerichtssaal."
Die Dolmetscherin gibt nicht viel über sich preis. Sie ist jung und gut ausgebildet. Sie hat keine Geschwister. Sie ist die Tochter von japanischen Einwanderern. Nach etlichen Jahren in New York, bewirbt sie sich auf eine befristete Stelle am Internationalen Gerichtshof in den Niederlanden. Wir erleben, wie sie versucht, in den neuen Job hineinzuwachsen, Freundschaften zu schließen, eine Beziehung zu führen und sich zuhause zu fühlen. Es fällt ihr schwer.
Sie ist nur ein Werkzeug. Und schlimmer noch: Das ist sie wohl nicht nur im Gerichtssaal. Ihr neuer Freund Adriaan reagiert tagelang nicht auf ihre Nachrichten. Und Jana, ihre Freundin, meldet sich nur, wenn es ihr besonders schlecht oder besonders gut geht. Vielleicht ist es an der Zeit, nicht für andere, sondern nur für sich selbst zu sprechen.
Das Buch:
"Intimitäten" (OT: "Intimacies", 2021) von Katie Kitamura, aus dem amerik. Englisch übersetzt von Kathrin Razum, Hanser, Hardcover): 24 €, eBook: 13,99 €, ein Hörbuch hibt es auch
Die Autorin:
Katie Kitamura, 1979 in Kalifornien geboren, ist eine amerikanische Schriftstellerin, Journalistin und Literaturkritikerin. Sie schreibt für zahlreiche Zeitungen, darunter The New York Times, Wired und The Guardian. Katie Kitamura lebt in New York. (Quelle: Hanser)