In "Das Jahresbankett der Totengräber" erzählt Mathias Énard die Geschichte von David, einem Doktoranden, der für seine Forschung aufs Land zieht. Eigentlich will er anschließend wieder zurück nach Paris. Aber da ist etwas, was ihn festhält. Die roten Würmer in der Dusche werden es wohl nicht sein, oder?
Die roten Würmer kommen immer wieder. Kleine rote Fäden in der Dusche. Er spült sie weg und am nächsten Morgen sind sie wieder da. Im Internet hat David jedenfalls weder zu den Schnecken – die regelmäßig ins Wohnzimmer ziehen – noch zu den Würmern in der Dusche etwas finden können. Seine Vermieterin Madame Mathilde will er nicht fragen, ebenso wenig ihren Mann Gary. Es ist ihm zu peinlich. Also bleibt nur radikale Akzeptanz.
Doktorarbeit über das französische Landleben
Bis auf die Weichtiere ist es doch ganz schön in seinem "wilden Denken". Wildes Denken – so hat David seine Behausung getauft, in der er ein Jahr lang wohnen wird, um seine Doktorarbeit über das französische Landleben zu schreiben. Das Haus steht in La Pierre-Saint-Christophe, einem Dorf mit 649 Einwohnern, unweit der Küstenstadt La Rochelle im Westen Frankreichs.
"Der Begriff 'das wilde Denken' ist allerdings nicht von David, sondern von einem seiner Vorbilder – von dem berühmten Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Für David steht fest, dass er einmal in dessen große Fußstapfen treten wird."
Die ersten Interviews hat David auch schon klar gemacht – eines davon mit dem Bürgermeister, der außerdem der Leichenbestatter der Gemeinde ist, was David sehr lustig findet. Wie überhaupt vieles: den langen Dorfnamen, den ulkigen Dialekt der Bewohner und Bewohnerinnen, den zwei Kilogramm schweren Kirchenschlüssel.
Der Doktorand will berühmt werden
David ist hochmotiviert. Er wird seine These formulieren, einhundert Menschen interviewen, die Aufnahmen konzentriert transkribieren und analysieren, zuerst seinen Doktorvater mit seiner Arbeit begeistern, dann die ganze hohe Riege der Ethnologen und Anthroposophen im Land. Er wird als gemachter Mann nach Paris zurückkehren und dort mit seiner Freundin Lara ein gutes Leben leben.
"Außerdem sind da zwei Katzen, die immer wieder tote Frösche vor seiner Wohnungstür ablegen – und schließlich ganz bei ihm einziehen. Perfekt."
Ist Davids Motivation in den ersten Wochen noch sehr hoch, verliert sie mit jedem Tag und jeder Begegnung an Kraft. Sein Forschungsfeld, die Dorfgemeinschaft, frisst ihn mit Haut und Haaren. Die Lebensgeschichten der Menschen: lustig, traurig, umgewöhnlich und erzählenswert. Und dann ist da noch Lucie, die resolute Biobäuerin, die an die schlimmen Auswirkungen des Klimawandels glaubt und für die Sauberkeit des Grundwassers im Dorf kämpft. Im Vergleich zu ihrem Tun verblassen Davids Ambitionen – und auch seine Freundin Lara, die in Paris im Satin-Schlafanzug vor der Webcam sitzt und wissen will, wann er zurückkommt. Tja, hm, wann?
Das Buch
"Das Jahresbankett der Totengräber" von Mathias Énard, aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, erschienen bei Hanser Berlin, 480 Seiten (inklusive Erläuterungen, Chanson-Texte, Anmerkungen, bibliografische Hinweise und Inhaltsverzeichnis), gebundene Ausgabe (Hardcover): 26 Euro, E-Book: 19,99 Euro. Erscheinungstag: 17.05.2021