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Es braucht Mut, Entschlossenheit oder einfach nur die dringende Notwendigkeit, gefestigte Rituale aufzubrechen und zu verändern – vor allem, wenn die eigene Familie mit drinsteckt. Und dann: Mit einem Mal ist plötzlich alles anders.

Ein kleines Mädchen wird von ihrem Vater mit dem Auto zu Verwandten seiner Mutter gebracht. Es ist ein Sonntagmorgen und eine lange Autofahrt an die Ostküste Irlands. Der Vater hat seinen Hut auf den Beifahrersitz geworfen und raucht aus dem Fenster. Das Mädchen hat sich die Zöpfe aus dem Haar geschüttelt, sich auf der Rückbank ausgestreckt und schaut aus dem Fenster. Beide schweigen, sie reden auch sonst nie viel – noch weniger miteinander.

Mutter ist schon wieder schwanger

Das Mädchen wird zu den Kinsellas gebracht, zu John und Edna, weil es für die Familie zu Hause zu viel wird. Die Mutter ist wieder schwanger. Die Kinder haben Hunger. Der Vater kommt mit der Ernte nicht hinterher. Das Geld fehlt an allen Ecken.

"Das Mädchen wird zu den Kinsellas gebracht, zu John und Edna, weil es für die Familie zu Hause zu viel wird. Die Mutter ist wieder schwanger. Die Kinder haben Hunger."
Lydia Herms, Deutschlandfunk-Nova-Buchrezensentin

Das Mädchen nimmt es hin. So wie es immer alles hinnimmt: den schroffen Ton des Vaters, die Müdigkeit der Mutter, die kaputten Kleider, das wenige und lauwarme Badewasser. Sie ist neugierig darauf, zu erfahren, wie die Tante und der Onkel sind. Dass sie sich das letzte Mal sahen, ist ewig her.

Plötzlich beginnt etwas Seltsames

Kaum ist der Vater wieder zurückgefahren und das Mädchen allein bei den Kinsellas, beginnt etwas Seltsames. Es ist etwas, wofür dem Mädchen noch die Worte fehlen – für die liebevollen Blicke von Edna beispielsweise, oder ihre vorsichtigen Berührungen, während sie das Mädchen wäscht, in frische Sachen steckt und durch jedes einzelne Zimmer führt. Wie nennt man das besorgte, aber freundliche Schweigen von John, das dem Mädchen eigentlich nicht viel sagt, irgendwie aber doch?

"Kaum ist der Vater wieder zurückgefahren und das Mädchen allein bei den Kinsellas, beginnt etwas Seltsames. Es ist etwas, wofür dem Mädchen noch die Worte fehlen – für die liebevollen Blicke von Edna beispielsweise."
Lydia Herms, Deutschlandfunk-Nova-Buchrezensentin

Bei den Kinsellas gibt es warme Milch, es ist friedlich und vor allem: Es wird nicht geschimpft. Nicht einmal am nächsten Morgen, als das Laken nass ist. Niemand sagt: "Schäm dich, du bist doch viel zu groß, um noch ins Bett zu machen!". Stattdessen stellen Edna und John einstimmig fest, dass die alte Matratze offensichtlich geweint haben muss. Sie schrubben gemeinsam die Matratze sauber und lassen sie in der Sonne trocknen. Und zur Belohnung gibt es ein Stück Speck.

Ja, die Kleider, die Edna dem Mädchen gab, sehen schon irgendwie komisch aus, eine altmodische Hose und ein kariertes Hemd. Aber das Mädchen ist zufrieden. Es weiß noch nicht, was die Leute im Dorf über die kinderlosen Kinsellas reden, es weiß nichts über deren Geheimnis. Es weiß nur: "Hier darf ich sein. Hier bin ich willkommen."

Das Buch:

"Das dritte Licht" (OT: „Foster“, 2010, überarbeitet 2020) von Claire Keegan, neu aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser, Steidl Verlag, 104 Seiten / Ein Hörbuch gibt es auch, gelesen von Laura Maire.

Shownotes
Das perfekte Buch für den Moment ...
... wenn Weihnachten zum ersten Mal ganz anders ist
vom 24. Dezember 2023