Reinhard Haller will das Böse verstehen. Als psychiatrischer Gerichtsgutachter bekommt er einen Einblick in menschliche Abgründe, in die er sich einerseits einfühlen muss, von denen er sich andererseits aber nicht vereinnahmen lassen darf. Wie ihm das gelingt, erzählt er Sven Preger.
"Einerseits muss ich mich hin die Täter hineinfühlen", sagt Psychiater Reinhard Haller. "Andererseits darf ich mich nicht mit ihm identifizieren oder sogar von ihm manipulieren lassen." Die Gefahr dafür sei nämlich gegeben, so Reinhard Haller, den jeder große Verbrecher sei auch ein großer Psychologe.
Der Psychiater löst dieses Dilemma, indem er versucht, den Menschen durch eine wissenschaftliche Brille zu betrachten. "Dann verliert auch die Tat etwas an Schrecken", sagt er.
"Kriminalität ist Psychologie pur."
Mit rund 300 Tötungsdelikten hat sich Reinhard Haller in seiner Laufbahn beschäftigt. Seine Erfahrungen und Einschätzungen hat er in einem Buch aufgeschrieben: "Das Böse – Die Psychologie der menschlichen Destruktivität".
Am interessantesten sind die nicht eindeutigen Fälle
Besonders würden ihn Fälle interessieren, die nicht eindeutig seien. "Je schwieriger ein Fall, desto interessanter ist er." Ist ein Täter noch normal – und damit schuldfähig, oder schon krank – und deswegen möglicherweise nur eingeschränkt schuldfähig oder nicht schuldfähig? Das gelte es zu entscheiden.
"Ich tue mich schwer, Menschen zu verurteilen."
Die vier Elemente des Bösen
Das Böse konstituiert sich für den Psychiater durch vier Elemente:
- einseitige Machtverteilung zwischen Täter und Opfer
- Planung
- Entmenschlichung
- Empathie-Mangel
Einen Mangel an Empathie hält Reinhard Haller für das zentralste Merkmal des Bösen. Je mehr von diesen Faktoren erfüllt sei, desto böser sei die Tat, so sein Ergebnis.
"Wir leben im Zeitalter des Narzissmus."
Wenn er die Fälle über die Jahre vergleicht, erkennt Reinhard Haller eine Tendenz: "Das Böse wandelt sein Gesicht", sagt er. Er beobachtet, dass Taten durch immer kleinere Vorfälle ausgelöst werden. Dabei lässt sich der potenzielle Tatort schnell beschreiben. Das seien nämlich nicht die engen Gassen bei Nacht: "Das Böse wartet unter dem eigenen Dach", sagt der Psychiater. Eben dort, wo die meisten Kränkungen stattfinden würden.
Eine der Hauptursachen für böse Taten liegt Reinhard Haller zufolge auch im Zeitgeist: "Wir haben eine Wertschätzungsblockade", sagt er. Dabei würde jeder von uns die Urangst in sich tragen, nicht geliebt zu werden.
"Wir brauchen die Aggression."
In Eine Stunde Talk erzählt der Gerichtsgutachter und Psychiater, wie wir mit Aggressionen umgehen können, warum wir das Böse sogar brauchen und warum er nicht sagt, ob er jemals einen Joint geraucht hat.
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