Christina Feist befand sich in der Synagoge in Halle, als ein bewaffneter Mann versuchte, dort einzudringen, - und sie ist Nebenklägerin im Prozess gegen den Attentäter. Sie wünscht sich, dass Antisemitismus stärker öffentlich wahrgenommen wird.
Am 9. Oktober 2019 will Christina Feist den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur mit Freundinnen und Freunden in der Gemeinde in Halle feiern. Sie werden herzlich von den Gemeindemitgliedern empfangen. Wenige Stunden später sind alle, die sich in der Synagoge befinden, Zeugen eines Attentats.
"Seit dem Attentat haben wir einen Bund fürs Leben."
Der Anschlag: Während des Gottesdienstes, den gemeinsamen Gebete und der Thora-Lesung sitzt Christina mit einigen jüdischen Frauen zusammen, getrennt von den Männern, was üblich ist in der orthodoxen Glaubensrichtung. Plötzlich hört Christina zwei laute Knalle.
"Mein allererster Impuls war: Das ist ein Attentat, wir sollten uns alle ducken", erinnert sich die Wissenschaftlerin. Alle Gemeindemitglieder sind irritiert, bleiben aber ruhig.
In der Gemeinde entsteht keine Panik
Doch dann geht alles ziemlich schnell: Christina bekommt mit, wie ein Mitglied der jüdischen Gemeinde aufgeregt mit dem Gemeindeleiter spricht. Anschließend weist der Kantor alle ruhig an, aufzustehen und in den Hinterraum zu gehen: "Da ist ein bewaffneter Mann, der versucht, in die Synagoge einzudringen."
Panik bricht aber nicht aus – wie auch den ganzen Tag über nicht. Gemeinsam mit einem Freund verbarrikadiert Christina zwei Türen, während die anderen den Gebetsraum ruhig und geordnet verlassen.
"Mein erster Gedanke war: Der Freund, der aufspringt und nach hinten rennt, der stirbt nicht alleine. Ich bin ihm sofort hinterhergerannt."
Die Schüsse fallen gegen Mittag, die Gemeinde wird von der Polizei nach Christinas Aussage erst am Nachmittag von der Polizei evakuiert.
Während sie warten, kann sie kaum still sitzen, "dafür aber sehr klar denken", erinnert sich Christina. Sie sucht sich Aufgaben, läuft zwischen den Gemeindemitgliedern, die am Synagogen-Eingang mit der Polizei in Kontakt stehen, und den Betenden im oberen Stockwerk hin und her, um Nachrichten zu überbringen.
Im Gerichtsprozess sitzt Christina dem Angeklagten gegenüber
Neun Monate später steht der mutmaßliche Attentäter, der die Tat bereits gestanden hat, vor Gericht. Christina ist Nebenklägerin und zum Prozessauftakt nach Magdeburg gekommen. Dabei sitzt sie dem Mann, der versucht hat, in die Gemeinde einzudringen, gegenüber.
"Es ist eine enorm anstrengende Woche gewesen."
"Es erfordert unglaublich viel Energie und Durchhaltevermögen, da zu sitzen und nicht nur ihm zuzugucken", beschreibt Christina den Prozessauftakt. "Wenn er da lacht und grinst, wenn von Mord die Rede ist, wenn es um antisemitische Gewalttaten geht."
Auch das Video, das der Angeklagte während des Attentats live gestreamt hat, wird vor Gericht gezeigt. Christina ist im Saal geblieben und hat es sich angeschaut. "Ich will das nie wiedersehen. Gleichzeitig war das wichtig für mich", meint Christina. Es helfe ihr bei der persönlichen Traumaverarbeitung zu wissen, was passiert ist, nachdem der mutmaßliche Täter an der Tür der Synagoge gescheitert ist.
"Ich habe das Video bis zum Ende durchgesehen, und hab in der Sekunde, wo es zu Ende war, den Raum verlassen."
Christina hat keine bestimmten Erwartungen an den Prozess – sie hat Ängste und Hoffnungen, wie sie sagt: "Ich habe die Hoffnung, dass es diesmal reicht, um das große Ganze anzusprechen. Um über rechte Ideologie und Antisemitismus in Deutschland zu sprechen." Die Wissenschaftlerin fordert, dass das ohne Kompromisse geschieht und Maßnahmen so schnell wie möglich folgen.
Gleichzeitig sorgt sie sich, dass das Attentat für eine öffentliche Debatte nicht ausreicht und dass Antisemitismus und rechte Ideologie weiterhin nicht ernst genommen werden.
Antisemitismus ist im Leben von Christina und ihren Freundinnen Alltag
In Deutschland fühlt sich Christina inzwischen unsicher – gerade lebt und forscht sie in Paris. "Es vergeht keine Woche, in der ich nicht von irgendjemandem höre, dass irgendwas passiert ist." Bis zu dem Attentat in Halle war sie selbst nie direkt betroffen. "Seit Halle hat sich alles geändert: Ich habe kein Sicherheitsgefühl in Deutschland, ich habe kein Vertrauen in Autoritäten, ich kann nicht in Deutschland leben."
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