Der totale Überwachungsstaat wie in George Orwells dystopischen Roman "1984" wirkt harmlos gegen das "Sozialkreditsystems", das der chinesische Staat bis 2020 umsetzen will, um so die Bürger zu einer besseren Gesellschaft zu erziehen.
Eine bessere Gesellschaft zu haben, ist zunächst kein verwerfliches Ziel. Das Problem ist nur: Wer definiert, was gut und was schlecht ist? Im Falle von China macht das ausschließlich der Staat, sagt unser Korrespondent Axel Dorloff. In dem meisten Staaten erfolgt die Sanktionierung von "schlechtem Verhalten" über das Strafrecht. Diebstahl, Mord oder Betrug werden mit Freiheitsentzug oder Geldbußen bestraft. Mit dem neuen "Überwachsungssystem" kontrolliert der chinesische Staat jedes Verhalten.
"Es ist eine Art staatliche Kontrolle, um die Gesellschaft besser zu machen."
Zwar werden in China die Bürger schon überwacht, bislang aber noch nicht so systematisch. Jetzt werden die Daten zusammengeführt. Es gibt schätzungsweise rund 40 Pilotprojekte in ganz China. Ob der Staat es schafft, das "Sozialkreditsystem" bis 2020 umzusetzen, wird von Experten bezweifelt.
"Der autoritäre Staat China macht sich fit für das digitale Zeitalter."
Ziel des Systems ist der einwandfreie, gute oder perfekte Bürger. Das "Sozialkreditsystem" soll die Menschen zu moralisch einwandfreien Bürgern erziehen, angelehnt an das Leitbild von Xi Jinping, "der spricht immer gerne von einer harmonischen Gesellschaft", sagt Axel Dorloff.
Automatische Ausschaltung von Dissidenten
Der Autor Murong Xuecun gilt als Dissident. Er hat mehrere Romane geschrieben, die teilweise verboten sind. Er hat sich mehrfach kritisch über die chinesische Regierung geäußert – und deswegen sozusagen schlechtes Verhalten an den Tag gelegt.
„Jeder hat mehrere Profile bei staatlichen Behörden, Leute wie ich haben ein spezielles Sicherheitsprofil, weil wir als Gefährdung wahrgenommen werden. Aber das "Sozialkreditsystem" ist ein neuer Ansatz, der macht mir Angst. Wir haben keine Ahnung, welche Informationen gesammelt werden."
Fast jede Handlung der Bürger hinterlässt Spuren im Netz. Der Staat sammelt so viele Daten wie möglich, trägt sie zusammen und wertet sie aus. Jeder Mensch bekommt ein Punktekonto, und auf dieser Grundlage kann der Staat dann bestrafen oder auch belohnen.
Beispiele für Minus- und Pluspunkte:
+ Ehrenamtliche Tätigkeit im Altenheim
- Stromrechnung nicht bezahlt
- Kritik an der kommunistischen Partei
Beispiel für Belohnungen:
Günstige Kredite für den Hauskauf
Bestrafung:
Zugang zu bestimmten Schulen verweigern
Einteilung der Gesellschaft in Klassen
Das Software-Unternehmen, das das gesamte System programmiert, heißt Kingdee und ist einer der größten Softwarehersteller in China. Dessen Chef, Zhang Chengwei, beschreibt das Klassensystem:
"Diejenigen mit der Bewertung A stehen auf der Roten Liste, die anderen auf der Schwarzen Liste. Die aus der Roten Liste werden bevorzugt behandelt, zum Beispiel bei Zulassungen für Schulen, bei sozialen Leistungen und auch bei Versicherungen. Die aus der C-Gruppe werden täglich kontrolliert. Sie bekommen schriftliche Hinweise über bestimmte Einschränkungen. Das kann zum Beispiel die Kürzung von sozialen Hilfen sein. Die unterste Klasse ist D. Diese Leute dürfen keine Führungspositionen mehr besetzen, bekommen Leistungen gestrichen und haben keine Kreditwürdigkeit mehr."
Zur Hälfte umgesetzt
Nach Aussagen des Software-Entwicklers Zhang Chengwei ist die Hälfte der Lokalregierungen dabei, das "Sozialkreditsystem" aufzubauen. Rongcheng ist eine der Pilotregionen. Dort sammeln die Behörden Daten über die Bürger und leiten sie weiter an die Regierung. Die Daten stammen aus dem Familienregister, Strafregister, von Verkehrsdelikten, aus der Kredithistorie, von Finanzbehörden oder der Sozialkasse, auch Informationen von Mobilfunkverträgen, von staatlichen Telekommunikationsunternehmen. "Der Fantasie sind da im Prinzip keine Grenzen gesetzt", sagt Axel.
Daten von Online-Plattformen
In Rongcheng sind schon 600.000 Bürger in so einer Softwareplattform erfasst. Bis 2020 will China alle Datenbanken des Landes vereinen. Auch die Wirtschaftskonzerne sollen dann Daten zuliefern. Internetunternehmen wie Alibaba oder Tencent haben anhand ihrer Kundendaten eigene Kreditbewertungssysteme eingeführt, die sie bislang nur selbst nutzen, sagt unser Korrespondent. Diese Daten geben Aufschluss über das Kaufverhalten der Kunden, woran der chinesische Staat ebenfalls Interesse hat.
Beispielsweise lässt sich daran ablesen, ob eine Person leidenschaftlich gerne und stundenlang Videospiele spielt. Aus Regierungssicht wäre das schlechtes Verhalten, die Person wird als träge eingestuft. Wer häufig Windeln kauft, ist demnach wahrscheinlich Vater oder Mutter eines kleinen Kindes und gilt als verantwortungsvoll.
"Ehrliches Schanghai"
Wie das neue System umgesetzt wird, ist von Lokalregierung zu Lokalregierung verschieden. In Schanghai, berichtet Axel, gibt es eine App "Ehrliches Schanghai". Wer als Bürger von Schanghai die App installiert hat, lässt sich sein Gesicht scannen und gibt seine Ausweisnummer ein. 24 Stunden später bekommt der User das Ergebnis mitgeteilt, ob er ein guter, sehr guter, befriedigender, ausreichender oder schlechter Bürger ist, sagt Axel.
6,7 Millionen Mal bestraft
Auch die Sanktionen greifen schon: Wer seinen Kredit nicht zurückgezahlt hat, darf nicht mehr mit Bahn oder Flugzeug reisen. Die Sanktionen über Bahn- oder Flugzeugtickets sind sehr einfach, sagt Axel, weil jedes Ticket nur unter Angabe der Ausweisnummer gekauft werden kann. In 2016 wurde – nach Angaben der offiziellen Staatsmedien - diese Strafe 6,7 Millionen Mal verhängt, berichtet Axel.
Ein 27-jähriger Kameramann aus Peking berichtet Axel über die Folgen: "Ich werde bestraft, weil ich für jemanden Dritten eine Kreditbürgschaft ausgestellt habe. Der Kredit wurde nicht zurückgezahlt und ich wurde bestraft. Als ich ein Flugticket kaufen wollte, habe ich keines bekommen. Daraufhin habe ich herausgefunden, dass ich grundsätzlich keine Tickets mehr kaufen kann. Das war letzten November. Ich kann weder Flugtickets noch Fahrscheine für den Schnellzug kaufen."
Daten aus soziale Netzwerke
Hinzu kommt die Überwachung der sozialen Netzwerke wie Weibo oder Wechat, die in das "Sozialkreditsystem" eingebunden werden sollen. Davor warnt der kritische Autor Murong Xuecun, der auch im Netz bloggt. Bürger wie Murong Xuecun können gegen die chinesische Regierung nicht klagen, weil es keine unabhängige Justiz gibt.
"Am meisten Angst macht mir, dass deine Kommentare im Internet auch Einfluss auf deinen "Sozialkredit" haben werden. Bei Leuten wie mir, denen man schon viele Konten in den sozialen Medien gesperrt hat, besteht doch kein Zweifel: Wir gehören zu den großen Verlierern eines "Sozialkreditsystems". Aber habe ich in China irgendwelche Möglichkeiten etwas dagegen zu tun? Nein, ich habe keine Wahl."