Über Politik und die eigene Wahlentscheidung offen und ehrlich zu sprechen – das fällt vielen schwer. Dabei kann uns der Austausch über politische Meinungen helfen, unserer eigenen Bubble zu entfliehen.
Deutschlandfunk-Nova-Reporter Julian Ignatowitsch diskutiert seit über zehn Jahren immer wieder mit seinen ehemaligen Politikwissenschafts-Kommilitonen über Politik und wo sie bei Wahlen ihr Kreuz setzen. So schwer wie dieses Mal sei ihnen die Wahl aber noch nie gefallen. In den Gesprächen wird schnell klar: In seinem Freundeskreis, tendieren alle dazu, die Grünen zu wählen. Darüber sprechen sie ganz offen mit Julian.
Das zeigt einerseits, dass die Grünen bei den bis 35-Jährigen den Ton angeben, und andererseits, dass sich Menschen häufig in einem Umfeld Gleichdenkender bewegen. Julian stellt sich bei den Gesprächen mit seinen Kommilitonen und Kommilitoninnen aber noch eine Frage: Sagen sie das mit den Grünen nur, weil sie denken, dass sei das, was Julian hören möchte?
Soziale Erwünschtheit: Sagen, was die Gesellschaft erwartet
Könnte sein, sagt Soziologin und Statistikerin Frauke Kreuter von der LMU München. Denn es gibt den Effekt der sozialen Erwünschtheit. Menschen geben demnach bei der Frage nach ihrer Wahl häufig die Antworten, von denen sie denken, dass die Mehrheit der Menschen diese Antwort hören möchte.
"Wir orientieren uns an dem, was wir denken, dass die Mehrheit gerne hören möchte und richten unsere Antworten danach aus."
Das wurde beispielsweise sehr deutlich bei der US-Wahl im Jahr 2016: Trotz vermeintlicher Chancenlosigkeit bei den Vorabumfragen gewann Donald Trump die Wahl. Vielleicht treffe das Prinzip des Unterschätzens jetzt auch auf Armin Laschet von der CDU zu, mutmaßt Julian.
Wahl als identitätsstiftende Entscheidung
Ein weiterer Grund, warum viele ihre Wahlentscheidungen nicht offen kommunizieren, sei die Tatsache, dass es ihnen schwer falle im Freundeskreis mit politischen Differenzen umzugehen. Das liege daran, dass Politik und die Wahlentscheidung identitätsstiftend für uns seien, sagt die Mediatorin und Kommunikationswissenschaftlerin Andrea Hartmann-Piraudeau.
"Wir identifizieren uns, unsere Persönlichkeit stark darüber: Ich bin links, ich bin liberal, mir ist Sicherheit oder Umweltschutz wichtig. Und wenn wir uns für eine Partei entscheiden, dann ist das auch immer eine Entscheidung gegen etwas."
Dass wir wählen und uns damit selbst in bestimmte Kategorien pressen müssen, führe auch dazu, dass Diskussionen über Politik schneller eskalieren als über den Musikgeschmack, erklärt Andrea Hartmann-Piraudeau.
Raus aus der Bubble
Gleichzeitig hat dies zur Folge, dass wir unsere eigene Meinung kaum überdenken oder gar ändern. Wir wollen Recht haben und halten oft alle anderen Meinungen für falsch oder weniger wert, sagt Deutschlandfunk-Nova-Reporter Julian. Man vergisst also über den eigenen Tellerrand zu schauen.
Das fällt gerade in den sozialen Medien sehr stark auf. Julian zieht es deshalb vor, lieber Offline-Gespräche zu führen, anstatt sich im Netz bei politischen Debatten zu beteiligen oder sich mit Trollen anzulegen.
Der Konsens-Charakter der deutschen Demokratie
Oft muss Julian an seinen ehemaligen Politik-Professor zurückdenken. Dieser habe immer gesagt, dass das Besondere an der deutschen Demokratie ihr Konsens-Charakter sei – ganz im Gegensatz zur USA und ihrem polarisierenden Konflikt-Charakter.
Genau deswegen lohnt es sich auch über das Wählen zu sprechen und anderen zuzuhören, sagt Julian. Dadurch verstehen wir nicht nur andere besser, sondern auch uns selbst. Außerdem lernen wir bei Themen, in denen wir uns persönlich nicht so gut auskennen, dazu.
"Es lohnt sich übers Wählen zu sprechen und zuzuhören. Weil wir dann andere und uns selbst besser verstehen."
All das sei wichtig, damit wir als Gesellschaft gut und friedlich zusammenleben können und alle Meinungsverschiedenheiten doch unter einen Hut bekommen, davon ist Julian überzeugt.