Das Leben mit einer Essstörung ist eine dauerhafte Belastung für Körper und Seele, erzählt Can. Er leidet seit seiner Kindheit unter Binge Eating. Ernährungstherapeutin Teresa Bilic erklärt, woran wir erkennen, wenn Essanfälle krankhaft werden.
Fünf, sechs Burger, zwei Pizzen und zwei Tafeln Schokolade. Die Essanfälle kommen, wenn Can alleine zu Hause ist. Can leidet seit seiner Kindheit unter regelmäßigen unkontrollierten Essanfällen. Trotz des jahrelangen Leidens ist er nicht in Behandlung, sondern hat sich anhand der Kriterien selbst diagnostiziert: Binge-Eating-Disorder.
Essen, um schwierige Gefühle zu betäuben
Cans persönlicher Einschätzung nach kommt seine Binge-Eating-Disorder daher, dass es ihm schwerfällt, mit schwierigen Emotionen umzugehen. Essen helfe ihm, diese zu betäuben.
"Wenn mich der Essanfall überkommt, schalte ich auf Autopilot und stopfe alles in mich hinein. Ohne zu schmecken, was ich esse. Danach folgen Scham, Schuldgefühle und Selbstverurteilung."
Angefangen hat alles, als seine Eltern sich scheiden ließen, erzählt er: "Ich fühlte mich ohnmächtig und hatte das Gefühl, nichts an der Situation ändern zu können. Von da an habe ich in schwierigen Situationen zum Essen gegriffen, um mich wieder besser zu fühlen. Es war und ist meine Sicherheitsstrategie."
Kontrollverlust als wichtigstes Kennzeichen der Binge-Eating-Disorder
Teresa Bilic ist Ernährungstherapeutin und bestätigt, dass Prägungen aus der Kindheit ursächlich für eine Essstörung wie Binge-Eating-Disorder sein können. Das sei jedoch nur einer der möglichen Gründe. Essstörungen sind laut der Ernährungstherapeutin immer multifaktoriell, können also unterschiedliche oder gleich mehrere Gründe haben. So kann das vorgelebte Essverhalten der Bezugspersonen in der Kindheit eine Rolle spielen, genauso wie strenge Essensregeln oder Diäten in der Kindheit. Ebenso kann auch ein mangelnder Selbstwert eine Rolle spielen oder biologische Faktoren, wie zum Beispiel ein reduzierter Serotoninspiegel im Gehirn.
"Die Gründe für Essstörungen sind vielfältig. Aber fest steht: Diäten sind immer ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung."
Bei einer Binge-Eating-Disorder treten die Essanfälle mindestens einmal pro Woche über einen Zeitraum von drei Monaten auf, erklärt Teresa Bilic. Betroffene berichten von einem vollständigen Kontrollverlust. Übergewicht und ein problematisches Körperbild kommen oft hinzu, genauso wie ein sozialer Rückzug. Oft haben Betroffene neben der Essstörung weitere psychische Erkrankungen.
"Essstörungen sind keine unheilbaren Erkrankungen. Die Behandlung der Binge-Eating-Disorder ist besonders erfolgsversprechend."
Teresa Bilic empfiehlt denjenigen, die den Verdacht haben, eine Essstörung zu haben, sich dringend vor Ort oder online an eine Beratungsstelle zu wenden. Dort bekomme man auch entsprechende Adressen, zum Beispiel für psychotherapeutische Anlaufstellen.
Selbsthilfe ist kein Therapieersatz
Can hat mittlerweile selbst einen Weg gefunden, mit seiner Essstörung umzugehen. Geholfen hat ihm dabei, dass er angefangen hat, über seine Krankheit zu bloggen. Mit Berichten über seine Auf und Abs erreicht er viele Menschen und bekommt positive Rückmeldungen, erzählt er. Das pusht ihn weiterzumachen, auch wenn er betont, dass die Essstörung nicht vorbei ist. Die Essanfälle seien aber weniger häufig und liefen inzwischen kontrollierter ab als früher. Eine Therapie hält Can für sich zurzeit nicht für nötig.
Teresa Bilic kennt Klient*innen, die aus Blogs und Social-Media-Kanälen Hoffnung und Inspiration für sich und ihre Essstörung ziehen. So gesehen sind solche Kanäle sehr hilfreich, sagt die Therapeutin. Gleichzeitig betont sie, dass das Bloggen, Einholen von Tipps oder Folgen von Accounts keine Therapie ersetzt. Eine Essstörung sei eine psychische Erkrankung und sollte entsprechend professionell behandelt werden.
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