Die Eltern Arbeiter, das Kind an der Uni: Davon lässt sich als Triumph erzählen. Doch tatsächlich ist es oft eher eine Geschichte von Scham und Ausgrenzung. Ein Bildungswissenschaftler, eine Erziehungswissenschaftlerin und eine Literaturwissenschaftlerin über den "Aufstieg durch Bildung".
Der Bildungswissenschaftler Christian Grabau fragt sich, welchen Preis Bildungsaufsteiger zahlen, für die Abwendung vom Herkunftsmilieu, für den Aufstieg durch ein Studium. Die autosoziobiographischen Texte der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux oder Didier Eribons "Rückkehr nach Reims" zum Beispiel würden keine Heldengeschichten erzählen, sondern von Schmerz und Entfremdung.
"Was für ein demütigender Ort die Uni sein kann – ein Ort, an dem ich mich relativ wohl fühle."
Christian Grabau betrachtet diese und andere Texte über Bildungswege mithilfe der Theorien des Soziologen Pierre Bourdieu, der wiederum selbst ein Bildungsaufsteiger war. Pierre Bourdieu untersuchte, wieso Hierarchien und Herrschaftsstrukturen stabil sind – wieso das Bildungssystem systematisch Bildungsungleichheiten reproduziert und verschleiert. Zentral in Pierre Bourdieus Gedankenwelt ist der Begriff des "Habitus": Er bezeichnet das Verhalten, den Geschmack, das Auftreten einer Person, die damit etwas über ihren Status und ihre Herkunft erzählt.
Beschämt durch den Arbeitervater
Die Erziehungswissenschaftlerin Flora Petrik hat ihre Studierenden über den eigenen Bildungsweg schreiben lassen. Sie empfiehlt auch uns, das auszuprobieren. In dem Text einer Studentin entdeckt sie zahlreiche Momente der Scham: Beschämung über die eigene Herkunft, über die Unwissenheit, wie Krustentiere gegessen werden, über die Konfrontation mit dem eigenen Milieu. Die Studentin hat ihren autosoziobiographischen Text "Das Straßenkehrerkind an der Hochschule" genannt.
"Hatte ich Schule aus, bin mit Klassenkameradinnen zum Bus gegangen und mein Vater stand in knallorangener Arbeitskleidung da, hat mir gewunken. Hab' ich mich geschämt!"
Die Begegnung mit dem Vater in Straßenkehreruniform auf der Straße, schreibt die Studentin, habe ihr zum ersten Mal bewusst gemacht, "dass es so was wie verschiedene Schichten gibt". Sie bittet ihren Vater darum, sie künftig auf der Straße nicht mehr zu grüßen.
Herkunft als Bildungshindernis
Auch Flora Petrik betrachtet Texte wie diesen mithilfe der Bourdieuschen Begrifflichkeiten. Sie deutet die Sicht der Studentin auf ihre Umwelt mit Pierre Bourdieu als "Scharfblick der Beherrschten".
Die Literaturwissenschaftlerin Mariam Muwanga analysiert zwei literarische Texte: "Some Kind of Black" von Diran Adebayo und "Girl Women Other" von Bernardine Evaristo. Beide Romane erzählen von Protagonisten, die als Kinder nigerianischer Einwanderer in Großbritannien ein Studium an der University of Oxford aufnehmen.
"Beide sind Kinder nigerianischer Einwanderer. Beide werden in Oxford oft ausgegrenzt beziehungsweise fühlen sich dort nicht zugehörig."
Beide Romanfiguren versuchen, sich selbst, ihre schwarzen Körper den weißen Räumen anzupassen und den gewünschten vorherrschenden Habitus auszuprägen. Sie fühlen sich unbehaglich und fremd. Dieses Gefühl des Unbehagens bezeichnet Mariam Muwanga mit einem Begriff der Geschlechter- und Postkolonialismus-Forscherin Sara Ahmed als "Hypervisibilität".
Besprochene Texte:
- Annie Ernaux: Werke
- Didier Eribon: "Rückkehr nach Reims"
- Pierre Bourdieu: "Die feinen Unterschiede" und "Ein soziologischer Selbstversuch"
- Diran Adebayo: "Some Kind of Black"
- Bernardine Evaristo: "Girl Women Other"
Alle drei Vorträge wurden am 24. November 2024 anlässlich der Veranstaltung "Bildungsaufstieg als Narrativ" gehalten, im Rahmen der Ringvorlesung "Aufstieg durch Bildung? FirstGen an der Universität erfahren, erzählen, erklären" an der Bergischen Universität Wuppertal.
Christian Grabau ist Bildungswissenschaftler an der Fernuniversität Hagen, sein Vortrag heißt – nach Annie Ernaux – "Ein ontologischer Schock".
Flora Petrik ist Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Tübingen, ihr Vortrag heißt "Das Straßenkehrerkind in der Hochschule – Wie Studierende von ihrem Bildungsaufstieg berichten".
Mariam Muwanga ist Literaturwissenschaftlerin an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihr Vortrag hat den Titel "BiPoc-Studierende an der Universität. Narrative Inszenierungen in zeitgenössischen black british novels".
- Beginn des Vortrags von Christian Grabau: "Ein ontologischer Schock":
- Beginn des Vortrags von Flora Petrik: "Das Straßenkehrerkind in der Hochschule - Wie Studierende von ihrem Bildungsaufstieg berichten"
- Beginn des Vortrags von Mariam Muwanga: "BiPoc-Studierende an der Universität. Narrative Inszenierungen in zeitgenössischen black british novels"