Nach dem tödlichen Messerangriff in Solingen verdichten sich die Hinweise, dass der mutmaßliche Täter im Namen des sogenannten "Islamischen Staats" gehandelt haben könnte. Welche Strategie des IS steckt dahinter?
"Das war Terrorismus. Terrorismus gegen uns alle. Und das ist etwas, was wir niemals hinnehmen werden." Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Solingen gesagt. In der Stadt in Nordrhein-Westfalen ist ein Mann mit einem Messer auf Besucher eines Stadtfestes losgegangen und hat drei Menschen getötet.
Entsetzen und Trauer in Solingen
Auch Tage nach diesem Angriff sind viele Menschen immer noch schockiert – vor allem in Solingen selbst, einer Stadt im Bergischen Land, nicht weit von Wuppertal und Düsseldorf entfernt, die am Tag des Anschlags ihren 650. Geburtstag feiern wollte. Nun überwiegt dort die Trauer. Deutschlandfunk-Nova-Reporterin Felicitas Boeselager hat sich ein Bild von der Lage vor Ort gemacht und sagt: "Einige Menschen waren selber hier und haben das Attentat selber miterlebt. Haben gesehen, wie Menschen neben ihnen zusammengebrochen und gestorben sind – kennen Menschen, die gestorben sind."
"Immer wieder habe ich die Geschichte gehört von jemandem, der gesagt hat: 'Ich wollte aufs Stadtfest. Dann war ich zu müde und bin zuhause geblieben.' Dieses Gefühl, sozusagen knapp entkommen zu sein, haben viele."
Die Ermittelnden gehen inzwischen davon aus, dass der Angreifer eine Verbindung zum sogenannten "Islamischen Staat" (IS) hat. Die Terrororganisation verfolgt mit solchen Anschlägen die Strategie, Angst und Schock zu verbreiten. Offenbar mit Erfolg: Bei ihren Gesprächen mit Menschen in Solingen hat unsere Reporterin bemerkt, dass viele nun verunsichert sind: "Ich habe mit einer Frau geredet, die gesagt hat, dass sie sich eine ganze Weile gar nicht rausgetraut hat. Und erst als der mutmaßliche Täter dann gefasst war, hätte sie sich getraut, wieder rauszukommen. Aber ich habe ihr das körperlich angesehen, sie war richtig zittrig. Diese Verunsicherung hat geklappt."
Demnächst soll in Solingen wieder ein Stadtfest stattfinden. Ob es dazu kommt, ist unklar. Eine Band hat ihren Auftritt bereits abgesagt. Andere dagegen wollen daran festhalten, nach dem Motto: Jetzt erst recht.
Echte Verbindung zum IS?
Für die Messerattacke soll mutmaßlich der 26-jährige Syrer Issa al H. verantwortlich sein. Er ist erst geflohen, hat sich dann aber der Polizei gestellt. Offizielle IS-Kanäle behaupten: Ja, der Mann gehört zu uns. Die Terrororganisation hat ein Video veröffentlicht, das den Mann zeigen soll. Die Frage ist: Wie glaubhaft ist dieses Video? Oder kommt es dem IS einfach nur gelegen, um zu sagen: Damit haben wir etwas zu tun.
Terrorismusexperte Hans-Jakob Schindler hält das Video für authentisch, es zeige offenbar tatsächlich den Attentäter von Solingen.
Michael Götschenberg ist Terrorismusexperte der ARD. Er sagt, ganz eindeutig zu erkennen ist der Angreifer aus Solingen in diesem veröffentlichen Video nicht: "Tatsächlich ist es so, dass man eine vermummte Gestalt sieht, die eine Machete in der Hand hält, Racheakte ankündigt und einen Treueeid auf den IS leistet."
"In einer weiteren Sequenz sieht man die Person mit einem verpixelten Gesicht, sodass es nicht sicher ist, ob es tatsächlich der Attentäter von Solingen ist."
Der IS hatte zuletzt zu Anschlägen rund um die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland oder auch bei den Olympischen Spielen in Paris aufgerufen. Dazu ist es nicht gekommen.
"Es kann jederzeit und überall passieren"
Aus Sicht von Michael Götschenberg passt die Tat von Solingen dennoch zur aktuellen Strategie des IS: "Man denkt immer in Kategorien, dass es nur darum gehe, große Anschläge zu verüben oder an spektakulären Orten. Aber so unspektakuläre Orte wie eben ein Stadtfest in Solingen sind durchaus im Sinne des IS – aus dem einfachen Grunde, weil das natürlich auch wieder deutlich macht, dass das jederzeit und überall passieren kann."
"Das ist ja der Sinn von Terrorismus: Menschen das Gefühl zu geben, dass sie nirgendwo mehr sicher sein können."
In den vergangenen Monaten war der Islamische Staat wenig präsent in Deutschland – bis zu dem Messerangriff in Solingen. Zuvor hatten in Wien abgesagte Konzerte von Taylor Swift für Aufsehen gesorgt. Grund waren Terrorpläne von mutmaßlichen IS-Sympathisanten.
So ist der Islamische Staat aufgebaut
Michael Götschenberg erklärt, dass wir unterscheiden müssen:
- Es gibt die IS-Mutterorganisation, die in Syrien und im Irak sitzt.
- Außerdem gibt es in Afghanistan und seinen Nachbarstaaten die 2014 gegründete Regionalgruppierung "Islamischer Staat - Provinz Khorasan" (ISPK).
"ISPK ist der Ableger des IS, der schon seit geraumer Zeit den Anspruch formuliert hat, er möchte auch Anschläge in Europa verüben", so Götschenberg. Dieser Ableger soll auch für den Anschlag in der Nähe von Moskau mit mehr als 130 Toten verantwortlich sein.
IS-Zentrale hat möglicherweise wieder verstärkt Europa im Blick
Hinzu kommt, dass der IS die Situation in Gaza als Thema für sich erkannt hat, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren und dazu zu bringen, auch im Westen Anschläge zu verüben, sagt der Terrorismusexperte. Seine Einschätzung ist, dass der Angreifer in Solingen wohl eher Kontakt zur Mutterorganisation hatte: "Was auch deutlich macht, dass offenbar auch die IS-Zentrale möglicherweise wieder verstärkt darauf hinarbeitet, Anschläge auch in Europa zu verüben."
"Darum ist auch diese Frage, ob der Angreifer in Solingen Kontakt zum IS hatte, für die Ermittler durchaus von Bedeutung – weil das natürlich schon einen Fingerzeig gibt, worauf man sich möglicherweise in der nächsten Zukunft einstellen muss."
Michael Götschenberg zufolge gab es offenbar nachrichtendienstliche Hinweise, dass der Attentäter Kontakt zum IS gehabt haben soll. Genaueres wisse man aber noch nicht.
Ermittler wollen Smartphone des Attentäters auswerten
Die Ermittlungen konzentrieren sich jetzt auch auf die Kommunikationsmittel des Attentäters. Nach Informationen des Terrorismusexperten sind die Ermittelnden auch bereits fündig geworden: So sollen ein Smartphone und ein Tablet gefunden worden sein. Nicht ganz klar ist, ob die Geräte auch wirklich dem Attentäter gehören. Außerdem sollen sie nass geworden sein. Es ist also unklar, ob sie am Ende überhaupt ausgewertet werden können.
Mutmaßlicher Attentäter war unauffällig
Bislang ist klar, dass der mutmaßliche Attentäter den Sicherheitsbehörden vor dem Messerangriff in Solingen nicht aufgefallen war. Das kann Verschiedenes heißen, sagt Michael Götschenberg: "Entweder, dass er sich wirklich unauffällig verhalten hat und man es möglicherweise mit einem Fall zu tun hat, wo jemand sich kurzfristig radikalisiert hat. Es kann aber auch sein, dass er schon bereits radikalisiert nach Deutschland gekommen ist – möglicherweise mit dem Auftrag, hier einen Anschlag zu verüben."
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Ermittelnde von einer solchen Radikalisierung vor allem etwas mitbekommen, wenn es Hinweise auf eine Bedrohung gibt – etwa, wenn sich jemand auffällig im Netz verhält.
"Anschlagspläne können die Sicherheitsbehörden nur im Vorfeld vereiteln, wenn es Kommunikation darüber gibt. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist man blind."
Der mutmaßliche Attentäter von Solingen war als Asylbewerber aus Syrien nach Deutschland gekommen. Und er hatte sich offenbar so lange vor den Behörden versteckt, bis er laut EU-Recht in Deutschland bleiben konnte, anstatt nach Bulgarien überführt zu werden. Dort hätte er eigentlich ein Asylverfahren durchlaufen müssen.
So schleust der IS Attentäter nach Europa
"Grundsätzlich ist die Taktik, sich einer Abschiebung zu entziehen, etwas, was nicht nur Terrorverdächtige tun, sondern auch sehr viele Asylbewerber", erklärt Michael Götschenberg. "Aber der IS ist in der Vergangenheit durchaus kreativ darin gewesen, wie man Attentäter – also Terroristen, die quasi mit einem Auftrag irgendwohin gehen – nach Europa einschleust."
Im Vorfeld der Anschläge von Paris im Jahr 2015 seien einige der Attentäter beispielsweise über die Flüchtlingsrouten nach Europa geschickt worden – auch um die Flüchtlingsrouten selbst zu diskreditieren, so der Terrorismusexperte. "Es geht am Ende ja darum, ein Gefühl von Unsicherheit zu vermitteln und idealerweise bürgerkriegsähnliche Zustände heraufzubeschwören. Das ist das Ziel dieser Terrororganisation."
"Der IS tut alles, was irgendwie die politischen Verhältnisse in einem Land destabilisiert – um eben die Flüchtlinge insgesamt in Misskredit zu bringen."
Offenbar versucht der IS aber auch, den Gaza-Krieg für sich zu nutzen, meint Michael Götschenberg. "Man muss wissen, dass sowohl der IS als auch Al-Qaida, also die beiden großen islamistischen Terrororganisationen, in der Vergangenheit wenig Interesse am Schicksal der Palästinenser gezeigt haben. Dann kam der 7. Oktober 2023 mit den Anschlägen der Hamas in Israel und als Reaktion darauf der Krieg. Das haben die islamistischen Terrororganisationen mittlerweile als Thema für sich entdeckt."
Dem Terrorismusexperten zufolge werden die Bilder aus Gaza benutzt, um auch die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren und dazu zu bringen, Anschläge im Westen zu verüben.
"Das ist sicherlich auch der Grund, warum diese Bekennerbotschaft des IS zum Anschlag in Solingen auf den Gaza-Krieg Bezug genommen hat."
Der Messerangriff in Solingen hat Michael Götschenberg zufolge eine ähnliche Qualität wie Anschläge in den vergangenen Jahren: "Also Anschläge mit einfachen Mitteln. Man nimmt sich ein Messer und versucht, möglichst viele Menschen zu töten. Das ist das eine. Zum anderen aber stellt man schon fest, dass das Problem wieder größer geworden ist."
"Bedrohungslage nimmt zu"
Aus Sicht des Terrorismusexperten will der IS inzwischen wieder gezielt Anschläge im Westen verüben: "Der IS war zwischenzeitlich sehr regional fokussiert. Das scheint sich wieder zu ändern. Das heißt, dass die Bedrohungslage insofern wieder zunimmt und man jetzt abwarten muss, inwieweit es dem IS tatsächlich gelingt, wieder vermehrt Attentäter auch im westlichen Europa zu rekrutieren und in Marsch zu setzen."
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