Wir alle sind mit diesem Bild von der Steinzeit aufgewachsen – Mann jagt Tiere, Frau sammelt Pflanzen. Doch zwei Studien sagen jetzt: Das stimmt so nicht, auch Frauen haben damals gejagt.

Schon immer gibt es diese ganz klare Vorstellung davon, wie sich die Geschlechter in der Steinzeit ihre Arbeit aufgeteilt haben. Doch archäologisch und physiologisch gesehen ist das nicht belegt, zeigen jetzt zwei Studien im Fachjournal American Anthropologist. Die zwei US-Anthropologinnen, die sich genauer mit dem Thema beschäftigt haben, sagen: Auch Frauen waren damals an der Jagd beteiligt.

Ähnliche Verletzungen bei Männern und Frauen

Grundsätzlich ist es natürlich nicht so leicht zu erforschen, wie Menschen in der frühesten Menschheitsgeschichte gelebt haben – also in der Altsteinzeit, noch bevor der Mensch die Landwirtschaft erfunden hat, sagt unsere Reporterin Britta Wagner. Wir können ja niemanden mehr fragen, der damals gelebt hat. Die Schrift gab es auch noch nicht. Und auf den frühen Höhlenmalereien sind jagende Figuren geschlechtsneutral dargestellt.

Aussagekräftiger sind die menschlichen Überreste. Bei den wenigen Funden, die wir aus der frühen Menschheitsgeschichte haben, sieht es eher nach Gleichheit aus: Neandertaler-Männer und -Frauen hatten ähnliche Verletzungen an den Knochen.

"Sie mussten also wohl mit denselben Risiken im Leben klarkommen, wozu sicher auch die Jagd gehörte."
Britta Wagner, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin

In der Frühzeit wurde der Speer geworfen, um Tiere zu erlegen. Später, beim modernen Menschen, wurde mit Pfeil und Bogen gejagt, was körperlich weniger belastend war.

Unsere Vorfahren haben ihre Beute wahrscheinlich über eine lange Zeit und viele Kilometer verfolgt – dafür war Ausdauer gefragt. Und bei Ausdauer sind Frauen körperlich besser gewappnet als Männer, zeigt die aktuelle Auswertung von Physiologie-Studien zu der Frage.

Stärkstes Argument: Auch heute jagen Frauen noch

Das vielleicht stärkste Argument dafür, dass Frauen in der Steinzeit wahrscheinlich auch gejagt haben, liefert die Ethnologie mit einem Blick auf heutige Wildbeuterkulturen – also auf Menschen, die noch immer jagen und sammeln. Hier hat erst letztens eine andere Studie gezeigt, dass Frauen in vielen Kulturen bei der Jagd dabei sind – obwohl sie Kinder bekommen und sie stillen müssen. Überhaupt sollten wir uns von der Idee verabschieden, dass Frauen für die Jagd nicht in Frage kommen, nur weil sie schwanger werden, sagt die Anthropologin Cara Ocobock.

"In Wahrheit war es so: In unserer frühen Vergangenheit konnten sich Frauen nicht frei nehmen, wenn sie schwanger waren, sie mussten sich ja weiter um alles kümmern wie vor der Schwangerschaft."
Cara Ocobock, Anthropologin

Die Urmenschen könnten ihre Kinder in einer Art Trage dabei gehabt haben, von der es keine archäologischen Überreste mehr gibt. Oder vielleicht haben sich auch die Oma oder andere Gruppenmitglieder um den Nachwuchs gekümmert, wenn eine Jägerin unterwegs war. "Alles Möglichkeiten, die man nicht ausschließen sollte", sagt unsere Reporterin.

Eigenes Rollenverständnis wurde (fälschlicherweise) übertragen

Die Ur- und Frühgeschichtsprofessorin Brigitte Röder hat sich genauer damit befasst, woher der Mythos kommt, dass nur Männer gejagt haben sollen. Sie sagt: Seit dem 18. Jahrhundert haben viele Forschende einfach ihr eigenes kulturelles Rollenverständnis von Mann und Frau auf die alten Funde und die ethnografischen Beobachtungen bei moderneren Kulturen übertragen. Die haben dann auch die mythische Urzeit nur durch diese Lupe gesehen. Sprich: Die Leitideen aus ein paar Jahrzehnten menschlicher Kultur werden auf 2,8 Millionen Jahre Menschheitsgeschichte übertragen.

Forschungsergebnisse werden neu betrachtet

So langsam setzt es sich durch, Forschungsergebnisse nicht mehr durch diese Lupe zu sehen, auch wenn sich diese Leitideen sehr hartnäckig halten. "Die Forscherinnen, mit denen ich gesprochen habe, sagen auch, dass es manchmal noch Anfeindungen gibt. So von wegen 'Was soll der übertriebene Feminismus?'" Doch das ist inzwischen besser geworden, sagt unsere Reporterin.

Was die Wissenschaftlerinnen auch betonen: Es geht nicht darum, jetzt zu behaupten, dass nur die Frau in der Steinzeit gejagt hätte. Dafür gibt es auch keine Belege. Die Archäologin Brigitte Röder warnt dementsprechend auch davor, statt Mann = Jäger einfach modernere Ideen auf die Vergangenheit zu übertragen:

"Man muss dann auch aufpassen, dass es keine neue Mythen gibt, die dann wiederum einfach das in die Urgeschichte zurückprojizieren, was wir im Moment glauben."
Brigitte Röder, Archäologin

Die Archäologin beobachtet zum Beispiel, dass es jetzt – anders als früher – Rekonstruktionszeichnungen mit Steinzeitvätern oder sogar -großvätern gibt, die ein Kind auf dem Arm haben oder ihm sogar den Popo abwischen. Das ist dann unsere moderne Vorstellung von Gleichberechtigung und Aufteilung von Familienarbeit. Aber wer weiß wirklich, wie es in der Steinzeit war? Da sollten wir vorsichtig bleiben mit Interpretationen.

Shownotes
Archäologie
Hartnäckiger Mythos: Mann ist Jäger und Frau Sammlerin
vom 08. November 2023
Moderator: 
Markus Dichmann
Gesprächspartnerin: 
Britta Wagner, Deutschlandfunk-Nova-Reporterin