Die Zahl antisemitischer Übergriffe nimmt zu. Daran tragen wir eine Verantwortung, findet die politische Aktivistin Marina Weisband. Im Interview erzählt sie, was jeder Einzelne gegen Antisemitismus tun kann.
Der Antisemitismus nimmt in Deutschland merklich zu, sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden. Da viele Übergriffe auf jüdische Personen aber noch unterhalb der Schwelle einer Straftat stattfinden, würden diese keine Aufmerksamkeit erhalten. Darum nahm vor einem Jahr der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus seine Arbeit auf. Dort können jegliche Arten von Übergriffen gemeldet werden. Allein in diesem Jahr gingen dort über 300 Meldungen ein. Solche Zahlen sind alarmierend, findet auch Marina Weisband.
"Viele verwechseln die Forderung danach, Verantwortung zu übernehmen mit einer Schuldzuweisung."
Sie sagt: Gerade in Deutschland hat die Bevölkerung die Verantwortung, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Viele seien sich dieser Verantwortung zwar bewusst, doch einige würden diese Verantwortung als Schuldzuweisung verstehen. Aber darum geht es gar nicht, sagt Marina Weisband. Man habe noch nicht gelernt, mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit gut umzugehen.
"Wir bräuchten alle eine Massenpsychotherapie."
Ihrer Meinung nach gibt es viele Menschen, die eine Schuld ihrer Vorfahren spüren und diese dann auf jüdische Personen projizieren würden – und so neuen Hass schüren. Und das, obwohl die Jüdinnen und Juden ihnen gar keine Schuld an der Vergangenheit geben würden, sondern nur einen Auftrag für die Zukunft. Aufsteigendem Hass und Antisemitismus könne man nur mit Präventionsarbeit entgegen wirken. Und das bedeute nicht nur Aufklärungsarbeit zu leisten, sondern müsse vor allem im Zeichen von Begegnung stattfinden.
Nicht nur politische Verantwortung
Zu oft werden jüdische Menschen nur im Zusammenhang mit dem Holocaust gesehen und erwähnt, dabei gibt es auch eine lebendige jüdische Kultur, sagt Marina Weisband. Doch es sei nicht allein die Verantwortung der Politik, aufkommendem Antisemitismus entgegenzutreten, sondern ebenso die von Kulturschaffenden und der sozialen Gemeinschaft.
Die Verantwortung beginne im ganz Kleinen. Also auch bei Menschen in der U-Bahn und auf der Straße. Auch sie sind im Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus gefragt, so Marina Weisband. Sofern man sich nicht selbst in Gefahr begebe, habe man die Verantwortung in Situationen, in denen jemand Opfer eines antisemitischen oder rassistischen Übergriffs wird, einzugreifen.
Man solle sich zwar nicht in die Schusslinie begeben, aber sich mit dem Opfer solidarisieren. Man könne sich neben das Opfer setzen, ein Gespräch mit ihm anfangen und so einen Raum von Schutz und Freundlichkeit erzeugen. Denn es sei wichtig, dem Opfer das Gefühl zu vermitteln: Du bist nicht allein.
"Ich weiß nicht, ob es mehr Antisemiten gibt. Aber ich weiß, dass sie sich definitiv mehr trauen.“
Für Marina Weisband ist es problematisch, dass Rechten oder "besorgten Bürgern" in Talkshows eine Bühne geboten wird. Es sei nicht zu diskutieren, wenn Menschen die Auffassung vertreten, es sei in Ordnung, eine andere Gruppe abwerten zu dürfen. Denn wann immer so ein Thema aufgegriffen und ernsthaft diskutiert werde, seien nicht nur muslimische, geflüchtete oder jüdische Personen gemeint.
Vielmehr gehe es um den Gesamtkomplex: Rassismus und Antisemitismus seien keine verschiedenen Kategorien, sondern fußten beide auf dem gleichen Menschenbild: eines, das davon ausgehe, es gäbe bessere und schlechtere Menschen. Oder es gäbe Menschen, die dazu gehören, und solche, die es eben nicht tun. Die Gesellschaft trage also nicht nur die Verantwortung, die Vergangenheit aufzuarbeiten, sondern auch, sich zu fragen, auf welchen Werten sie aufgebaut werden soll.
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