Uneindeutiges, Widersprüchliches aushalten - gar nicht so einfach. Die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau untersucht, inwiefern diese sogenannte Ambiguitätstoleranz für das Nachdenken und Reden über Antisemitismus fruchtbar gemacht werden kann.
Kompliziertes Wort, aber rasch zu erfassender, weil alltäglicher Sachverhalt: Das Leben in Widersprüchen ist, so sagt es Quindeau, "eine menschliche Grunderfahrung, insbesondere in Krisen und Transformationsprozessen". Zuerst definiert und geschärft wurde der Begriff Ambiguitätstoleranz von der Psychoanalytikerin und Sozialwissenschaftlerin Else Frenkel-Brunswik.
"Ambiguitätstoleranz ist definiert als Fähigkeit, mit uneindeutigen, ambigen Situationen konstruktiv umzugehen."
Quindeau beschäftigt sich mit dem psychischen Konfliktgeschehen, das durch ambige Situationen ausgelöst wird. Sie begreift Ambiguitätstoleranz als "Gegenstück zum identitären, instrumentellen Denken".
Als Psychoanalytikerin untersucht sie, was passiert, wenn über Antisemitismus diskutiert wird. Dabei unterstreicht sie, dass es ihrer Ansicht nach "kein Außerhalb, keine dritte Position, von der aus über Antisemitismus nachgedacht werden könnte", gibt.
Antisemitismus bei documenta und Berlinale
Mit ihrem Instrumentarium untersucht sie zwei Zeitungsartikel, die sie als exemplarisch für prominente Diskurse begreift. In beiden wird der Umgang mit antisemitischen Vorfällen und Vorwürfen verhandelt: der Skandal um die Kunstausstellung documenta fifteen 2022 in Kassel und der um die Abschlussgala der Berlinale 2024.
"Ich glaube, dass auf der documenta einiges sichtbar, aber nicht verhandelt wurde."
In beiden Fällen sieht sie eine unbewusste Abwehrbewegung am Werk: Antisemitismus werde bei "den anderen" diagnostiziert. Diese Abwehr und Auslagerung verhindere Selbstreflexion und verunmögliche eine kritische, aber konstruktive Debatte.
"Ich möchte den Vorwurf des Antisemitismus von der Kritik des Antisemitismus unterscheiden."
Ilka Quindeau gliedert ihren Vortrag folgendermaßen:
- Antisemitismus als Ausdrucksgestalt des Unbewussten
- Debatten um die documenta fifteen und Berlinale-Preisverleihung
- Konstruktive Kritik statt verhärteter Debattenkultur
Ilka Quindeau ist Soziologin und Psychoanalytikerin. Am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin arbeitet sie zum Thema der "Autoritären Persönlichkeit" und Verschwörungserzählungen. Ihren Vortrag mit dem Titel "Ambiguitätstoleranz und Antisemitismus" hat sie am 13. Mai 2024 im Rahmen der Reihe "Wo liegt die Wahrheit? Über Ambiguitätstoleranz" am Jüdischen Museum Berlin gehalten.
Das Foto zeigt Ben Russell, Jay Jordan, Guillaume Cailleau und Servan Decle bei der Berlinale 2024. Ben Russells Rede wurde von Politiker*innen als einseitig kritisiert, die Berlinale distanzierte sich.
Tickets zu verschenken für den Hörsaal Live! am 11. Oktober in Berlin.
- Vorbemerkung: Straftaten und Debattenkultur nach dem 7. Oktober 2023
- Antisemitismus als Ausdrucksgestalt des Unbewussten
- Diskurs: documenta fifteen 2022
- Diskurs: Berlinale-Preisverleihung 2024
- Konstruktive Kritik statt verhärteter Debattenkultur