Hans-Christoph von Zahn war Offizier in der Wehrmacht. Gegen Kriegsende tat er etwas, was seine Enkelin Veronika von Borries bis heute nicht versteht.
Veronikas Großvater kam aus Dresden. Gegen Ende des Krieges floh er vor den Russen nach Westdeutschland. Seine Heimatstadt Dresden sah er nie wieder. Veronika zog mit ihrer Familie nach dem Mauerfall wieder zurück nach Sachsen, nach Meißen. Vor einigen Jahren hat Veronikas Vater sich mit den Kriegserinnerungen seines Vater beschäftigt. Hans-Christoph von Zahn hat diese nämlich nach dem Krieg aufgeschrieben, mit der Schreibmaschine und in einzelne Kapitel gegliedert. Jahrzehntelang lagen die dicht beschriebenen Seiten in einer Schublade.
"Und dann fiel mir ein Teil seiner Erinnerungen, nämlich die letzten Tage des 2. Weltkrieges, in die Hand und dann habe ich unter diesem Blickwinkel da ein bisschen gestöbert."
Chaos kurz vor Kriegsende
Veronika kennt die dunkle Seite ihrer Familie erst seit anderthalb Jahren: Ihr Großvater, Hans-Christoph von Zahn hat gegen Kriegsende ein Bataillon von 800 Mann kommandiert. Es sollte die Russen aufhalten, die in Richtung Dresden marschierten. Eines Morgens sollten seine Leute eines der Dörfer angreifen, das die Russen besetzt hatten. Nur die 4. Kompagnie erschien nicht. Der Kompagniechef saß mit seinen Leuten in einem Keller, frühstückte und trank. Irgendwann nutzte dieser Kompagniechef das Chaos und verschwand, er desertierte. Ein Entschluss, den Veronikas Großvater nicht nachvollziehen konnte. In seinen Erinnerunge schrieb er: "Ich vermute heute, dass der Chef durch Zivilisten (Radio) vom Falle Berlins gehört hatte und damit wusste, dass alles aus war. Als Parteigenosse wollte er sich nicht schnappen lassen, weil er auch seiner eigenen Leute nicht sicher war. Also verschwand er."
Ein Exemple statuieren
Veronikas Großvater ließ nach dem Mann und seinen Begleitern suchen und informierte seine Vorgesetzten. Er hatte Angst, dass deren Verschwinden die Kampfmoral seiner Männer schwächen könnte. Darum wollte er ein Exempel statuieren - und zwar an einem Soldaten aus der 4. Kompagnie, den seine Männer in Zivil erwischt hatten. Der Mann hieß vermutlich Jörn Händel, er war Koch, kam aus Dresden und hatte dort Frau und Kind. Das haben Veronika und ihr Vater später herausgefunden.
"Ich berief unter meinem Vorsitz sofort ein Kriegsgericht, dem der Adjutant und ein Gefreiter angehörten und verurteilte den Mann zum Tode."
Das alles geschah zu einem Zeitpunkt als die Nazis Dresden schon aufgegeben hatten - wenige Tage vor Kriegsende. Der Krieg war längst verloren und trotzdem musste der desertierte Soldat noch mit seinem Leben bezahlen. Als Veronikas Vater diese Geschichte zum ersten Mal liest, sieht er seinen eigenen Vater in einem ganz anderen Licht.
"Da dachte ich, das ist nicht mein Vater, so wie ich ihn kenne. Ab dem Zeitpunkt habe ich angefangen, richtig drüber nachzudenken."
Der Großvater bleibt ein Rätsel
Veronika und ihr Vater wollen mehr wissen, über Jörn Händel, den Mann, den Hans-Christoph von Zahn kurz vor Kriegsende erschießen ließ. Sie recherchieren vor Ort und in Archiven. Was bleibt, ist das Rätsel um den Großvater Hans-Christoph von Zahn.
"Seitdem ich davon weiß, gehört die Geschichte von Jörn Händel auch zu mir. Genauso wie die Geschichten über meinen freundlichen und gütigen Großvater. Für mich passen diese zwei Seiten nicht zusammen, ich kann sie aber auch nicht voneinander trennen."
Hinweis: Eine frühere Version dieses Textes trug die Überschrift "2. Weltkrieg: Großvaters Kriegsverbrechen". Das war sachlich falsch. Es geht um eine Entscheidung, die eindeutig moralisch falsch war, aber es war faktisch kein Kriegsverbrechen. Deshalb haben wir den Titel geändert.
Wir erzählen Eure Geschichten
Habt ihr etwas erlebt, was unbedingt erzählt werden sollte? Dann schreibt uns! Storys für die Einhundert sollten eine spannende Protagonistin oder einen spannenden Protagonisten, Wendepunkte sowie ein unvorhergesehenes Ende haben. Im besten Fall lernen wir dadurch etwas über uns und die Welt, in der wir leben.
Wir freuen uns über eure Mails an einhundert@deutschlandfunknova.de