Zeitenwende und Polykrise?Deutsche Politik nach dem 24. Februar 2022
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat weltweit Folgen und zieht weitere Krisen nach sich. In einer Welt, die mit Themen wie dem Klimawandel schon mehr als genug zu tun hat. Wie umgehen mit dieser Polykrise? Darüber macht sich der Historiker Adam Tooze in seinem Vortrag Gedanken.
"Wir - und damit meine ich die ganze Welt und insbesondere Europa - sind konfrontiert mit einer nie da gewesenen Situation. Das ist, glaube ich, keine Übertreibung." So beginnt der Historiker Adam Tooze seinen Vortrag über die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik angesichts des Krieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine.
Dieser Krieg verursacht zahlreiche Krisen, sicherheitspolitisch und wirtschaftlich, weltweit. Diese Krisen treffen auf die bereits bestehenden, die Klimaerhitzung, den demografischen Wandel, die digitale Transformation. Derartig viele Krisen gleichzeitig, die sich teils gegenseitig bedingen und verstärken oder aber kausal nicht zusammenhängen stellen eine immense Überforderung dar. Tooze spricht von Polykrise.
"Angesichts des lautstarken Lobbyismus hat die deutsche Regierung Mühe, sich der Vermutung zu erwehren, dass ihre eher zurückhaltende Politik in der gegenwärtigen Krise entscheidend durch unternehmerische Interessen mitgeprägt worden ist."
Adam Tooze schaut sich insbesondere an, wie die deutsche Politik auf die Polykrise reagiert. Wenn von "Handel durch Wandel" die Rede ist, stellt er die Frage: Wer verwandelt hier wen? Allerdings meint er, dass die Kritik an der deutschen Politik "skandalgefärbt" sei. Die Erzählung vom "deutschen Sonderweg" sei zu verlockend, um nicht auch auf diesen Kontext Anwendung zu finden.
"Erleben wir hier in Echtzeit die Geburt eines Sonderwegs-Narrativs der Berliner Republik?"
Tooze mag der Idee vom deutschen Sonderweg nicht folgen. Statt einer deutschen Isolation diagnostiziert er eine umfassende Krise der Globalisierung. Seit den 1990er-Jahren sei nicht nur Deutschland von befriedeten Verhältnissen im Umgang mit Russland ausgegangen, es habe positive Entwicklungen und Signale in der Klimapolitik gegeben, die wirtschaftliche Ordnung erschien stabil. Jetzt gelte es bei den politischen Analysen wie auch Reaktionen im Sinne Willy Brandts auf "Augenhöhe mit der Zeit" zu sein.
Adam Tooze ist britischer Wirtschaftswissenschaftler und Historiker, er lehrt an der Columbia University. 2021 erschien sein Buch "Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen". Seinen Vortrag hat er am 7. September 2022 in Berlin als Willy Brandt Lecture gehalten, unter dem Titel "Zeitenwende oder Polykrise? Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand".
Im Anschluss an den Vortrag hat Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, mit Tooze diskutiert.