GesellschaftObdachlos: Und plötzlich bist du unsichtbar
Immer mehr Menschen sind obdach- oder wohnungslos in Deutschland. Trotzdem spielt das Thema in der Gesellschaft nur selten eine Rolle – denn wir schauen oft weg. Wir haben mit einer ehemaligen Obdachlosen gesprochen. Wie hat sie ihre Situation erlebt?
Janita hat in ihrer Zeit als Obdachlose immer wieder versucht, so etwas wie einen Alltag und eine Struktur zu entwickeln. Funktioniert hat das aber nicht. Denn ständig passieren Sachen von außen, die man nicht beeinflussen kann, sagt sie.
Obdachlos heißt: spontan sein
14 Jahre hat Janita auf der Straße gelebt und dabei viel erlebt – oft sehr furchtbare Dinge: Unter anderem wurde sie angezündet. Sie konnte sich zum Glück retten, aber all ihre Klamotten verbrannten und sie konnte nicht mehr an ihren Schlafplatz zurück. "Innerhalb von einer Sekunde ändert sich auf der Straße immer wieder das Leben und du musst da drauf irgendwie reagieren", sagt sie.
"Innerhalb von einer Sekunde ändert sich auf der Straße immer wieder das Leben und du musst da drauf irgendwie reagieren."
Kaum vorstellbar, dass der Brandanschlag "nicht das Schlimmste" war, was Janita passiert ist, wie sie sagt. Als junges Mädchen habe sie aus Selbstschutz versucht, so lange wie möglich unauffällig zu sein und nicht als obdachlos aufzufallen. Später habe sie sich die Haare kurzgeschnitten, sei laut und aggressiv gewesen – nur, damit Menschen sich ihr nicht nähern, sagt sie.
Egal welches Geschlecht – Obdachlosigkeit sei für alle Menschen schlimm. Als Frau bekäme man allerdings Sprüche zu hören wie: "Ich muss ja nicht obdachlos sein, sondern nur einen Mann zum Heiraten suchen." Oder: "Wo sind deine Kinder, die sich um dich kümmern?"
Obdachlose Frauen würden sich daher öfter beschämt fühlen und unsichtbarer bleiben, da ihnen vermittelt werde, sie hätten nur richtig funktionieren sollen, um ihre Situation zu vermeiden.
Wohnungslose werden immer jünger
Obdachlose sind die Menschen, die auf der Straße leben. Wohnungslos dagegen haben keine Wohnung, können aber anders unterkommen – bei Freunden beispielsweise oder in Wohnprojekten.
Zur Wohnungslosigkeit gibt es aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamts. Demnach waren Anfang 2024 in Deutschland fast 440.000 Wohnungslose in Notunterkünften untergebracht. Ein starker Anstieg im Vergleich zu 2022, als es weniger als die Hälfte waren. Menschen, die keine Hilfsangebote nutzen, sind in der Statistik nicht erfasst. Andere Statistiken haben unterschiedliche Zahlen, da es sehr schwierig ist, ein verlässliches Datenbild zu erstellen. Die Dunkelziffer bei Wohnungslosen ist hoch, was genaue Erhebungen erschwert.
"Wohnungslose werden immer jünger. 2022 lag der Schnitt bei 32 Jahren, Anfang dieses Jahres ein Jahr darunter. 40 Prozent der erfassten Wohnungslosen waren jünger als 25 Jahre."
Weitere Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass etwa 55 Prozent der wohnungslosen Personen Männer und 43 Prozent Frauen sind. Auffällig ist: Wohnungslose werden immer jünger, der Altersdurchschnitt sank von 32 Jahren im Jahr 2022 auf 31 Jahre Anfang 2024. 40 Prozent der Wohnungslosen sind jünger als 25 Jahre. Auch hier ist eine genaue Datenerhebung schwierig, sodass andere Studien abweichende Zahlen nennen.
Faul? Auf der Straße unmöglich
Über die Gründe ihrer Obdachlosigkeit spricht Janita nicht gerne. Einzelfallschicksale würden nur dazu führen, dass andere Menschen sich gut davon abgrenzen können. Dabei gebe es viele Menschen, die durch Eigenbedarfskündigungen, Zwangsräumungen oder anderen Gründe obdachlos wurden, aber oft unsichtbar und ungehört bleiben. "Da sind auch Menschen dabei, die eine normale Arbeit, sogar ein Eigenheim hatten", sagt sie.
In Essen gibt Janita Stadtführungen. Anfangs war sie erschreckt, wie wenig die Menschen über Obdachlosigkeit Bescheid wissen, sagt sie. Daher kämen auch Vorurteile – etwa, dass Obdachlose freiwillig in dieser Situation leben oder dass sie faul sind. Janita konfrontiert die Menschen auch mit den hohen Zahlen an Todesopfern durch Gewalttaten auf der Straße.
"Auf der Straße gibt es keinen Feierabend, man kann sich nicht krankmelden, man hat einfach kein Wochenende. Du kannst dir auf der Straße keine Faulheit leisten."
Im Winter sei es kalt, im Sommer hätten die Menschen kein Wasser. "Sagt mir einen Grund, warum jemand ganz bewusst seine Wohnung kündigen sollte und obdachlos oder wohnungslos wird", mahnt sie. Auch das Argument, faul zu sein, kennt sie. "Auf der Straße gibt es keinen Feierabend, man kann sich nicht krankmelden, man hat einfach kein Wochenende. Du kannst dir auf der Straße keine Faulheit leisten", so Janita.
Obdachlos und aus der Gesellschaft gekickt
Viele Menschen würden wegschauen, wenn sie an Obdachlosen vorbeigehen, weil sie sich hilflos fühlen – auch aus dem Gefühl, nicht jedem helfen zu können. Obwohl das verständlich sei, könne das keine Lösung sein. Nur gemeinsam lässt sich Druck auf die Politik ausüben, um das Problem wirklich anzugehen, sagt Janita.
"Ich hätte mir gewünscht, dass die Menschen mich nicht so komplett aus der Gesellschaft rauskicken, um mir nur noch mit Mitleid zu begegnen, besonders zu Weihnachten."
Sobald Janita sich als obdachlos outete, sahen die Menschen sie nur noch als "die Obdachlose" – ohne ein früheres oder zukünftiges Leben zu berücksichtigen. Dabei haben Obdachlose zum Beispiel genauso Hobbys und Bedürfnisse wie alle Menschen. Auch Dinge wie Lebensmittelallergien werden ignoriert.
Janita wurde oft Mitleid entgegengebracht, erzählt sie, doch das würde nichts verändern. Sie hätte sich gewünscht, nicht komplett aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden und nur zu Weihnachten Mitgefühl zu erhalten.
Obdachlosigkeit ganz klar ein strukturelles Problem
Tim Sonnenberg ist Sozialwissenschaftler an der Fachhochschule Dortmund und beschäftigt sich in seiner Arbeit mit Obdach- und Wohnungslosigkeit. Becher, die umgetreten werden, dumme Sprüche und Abwertungen, aber auch Gewalt gegenüber Obdachlosen kennt er aus seinen Studien. "Viele Menschen beschreiben, dass sie sich als Menschen zweiter, dritter oder vierter Klasse behandelt oder überhaupt nicht mehr als Mensch wahrgenommen fühlen", sagt er.
"Viele Menschen beschreiben, dass sie sich als Menschen zweiter, dritter oder vierter Klasse behandelt oder überhaupt nicht mehr als Mensch wahrgenommen fühlen."
Emotional sei das natürlich sehr belastend. Je mehr Tim mit wohnungslosen Menschen spricht, desto mehr bewundert er ihre enorme Kraft, den schwierigen Alltag trotz ständiger Abwertung zu bewältigen, sagt er.
Das pauschale Vorurteil, dass Obdachlose freiwillig auf der Straße leben und keine Hilfe annehmen, weist der Forscher klar zurück. Mit diesem gängigen Bild versuche die Gesellschaft seit jeher, Obdachlosigkeit zu erklären. Doch das Problem hat ganz klar strukturelle Ursachen, sagt Tim Sonnenberg. Er nennt den "katastrophalen" Wohnungsmarkt, Rassismus, Sexismus und Ausbeutungsverhältnisse.