TV-DokumentationWirecard: Von Lügnern und Belogenen
Mindestens fünf Jahre lang soll der Finanzdienstleister Wirecard Banken und Investoren belogen haben. Und scheinbar niemand hat es bemerkt. Warum haben die deutschen Behörden nicht rechtzeitig eingegriffen? Eine ARD-Doku ist dem nachgegangen.
Der Wirecard-Skandal ist eine der größten Pleiten der Bundesrepublik. Der Finanzdienstleister mit Sitz in Aschheim bei München hatte "plötzlich" ein Bilanzloch von 1,9 Milliarden Euro und musste Insolvenz anmelden. Im August ist Wirecard aus dem Dax geflogen, wo das Unternehmen einst mehr wert war als die Deutsche Bank.
Wie konnte das alles passieren, fragen sich viele. War es nicht nur eine Frage der Zeit, wann die Firma vor die Wand fährt? Ein Untersuchungsausschuss im Bundestag beschäftigt sich damit – und auch eine TV-Dokumentation: "Der Fall Wirecard - Von Sehern, Blendern und Verblendeten" läuft am 07.12.2020 um 22:50 Uhr im Ersten.
Menschliche Seite des Skandals
Die Doku beleuchte vor allem die menschliche Seite des Skandals, sagt BR-Journalist und Co-Autor Philipp Grüll. Dafür eigne sich das Medium Fernsehen gut. So sei etwa der ehemalige Vorstandschef Marcus Braun zu hören, der in Untersuchungshaft sitzt.
"In der Doku erfährt man vor allem viel über die menschliche Seite dieses Skandals."
Weggefährten erzählen und man gewinne Einblicke – auch über den untergetauchten Wirecard-Vorstand Jan Marsalek. Der Film offenbare das Versagen der deutschen Behörden. Und er lasse auch die Gewinner im Fall Wirecard zu Wort kommen, so Philipp Grüll.
Shortseller haben auf Wirecard-Pleite gesetzt
Diese Gewinner seien vor allem die, die im Untertitel der Doku "Seher" genannt werden: die sogenannten Shortseller, also die Investoren an der Börse, die vor allem in den USA und in London auf fallende Aktienkurse wetten. Sie schauen sich vor allem die Unternehmen genauer an, bei denen sie Unregelmäßigkeiten oder Betrug wittern. Und sie setzen darauf, dass diese Machenschaften irgendwann ans Tageslicht kommen. Wenn diese Wette aufgeht, dann machen sie viel Geld. Im Fall Wirecard sei das genauso gewesen.
"Die Shortseller setzen auf fallende Aktienkurse und machen damit viel Geld. Sie sind aber auch das Beispiel dafür, dass man vieles hätte sehen können."
Diese Shortseller hätten aber auch vieles vorhersehen können, sagt Philipp Grüll. Schon 2016 hätten sie nämlich gegen Wirecard spekuliert – also dann, als in Deutschland quasi noch alle Wirecard als hervorragenden Finanzdienstleister priesen.
Genau hinschauen hätte geholfen
Die Börsenexperten hätten sich die Wirecard-Bilanzen sehr genau angeschaut, sagt Philipp Grüll. So sei ihnen etwa aufgefallen, dass die Einnahmen des Unternehmens auch dann weiter stiegen, als in den USA bestimmte Geschäfte mit Onlineglücksspielen verboten wurden und dadurch Teile des Umsatzes eigentlich hätten wegbrechen müssen.
Warum die deutschen Behörden solche Zusammenhänge nicht gesehen haben, das sei eben – noch – das große Rätsel, das jetzt auch der Untersuchungsausschuss im Bundestag versucht, aufzuklären. Eine Theorie der Shortseller laute, so Philipp Grüll, dass Deutschland "dieses tolle Unternehmen" Wirecard einfach unbedingt haben wollte.
"In Deutschland habe man dieses tolle Unternehmen einfach so sehr haben wollen – so lautet eine Theorie."
Auch in den Büroräumen von Wirecard wurde die ARD-Doku gedreht. Teilweise arbeiten dort noch Menschen, teilweise sind die Büros verlassen. Genau dort wurden Aufnahmen gemacht. Das sei eine bedrückende Atmosphäre gewesen, die Arbeit sei "durchaus gruselig" gewesen, erzählt Philipp Grüll.
"Durchaus gruselig"
Denn ein wenig habe es so ausgeschaut, als wären die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade erst gegangen: Dinge lagen noch herum, Flipcharts waren mit Ideen beschriftet – und irgendjemand habe dazugeschrieben: "Rest In Peace, Wirecard."
Unter anderem diese Mitarbeitenden auf den unteren Ebenen bezeichnet die Doku als die "Verblendeten". Sie hätten an das Unternehmen geglaubt und nichts von den Machenschaften der Führungsebene gewusst.
Die "Verblendeten"
Getäuscht und finanziell geschädigt wurden außerdem natürlich die Anleger. In der Doku wird das Beispiel eines Seemanns erzählt, der fast 40 Jahre zur See gefahren war und sich 70.000 Euro für die Rente zusammengespart hatte. Kurz vor der Rente hatte er dann sein ganzes Geld in Wirecard investiert – und das ist nun komplett verloren.
Das sei ein "krasses Schicksal" hinter dem großen Skandal, so Philipp Grüll. Vor Kurzem habe der Seemann erneut bei seiner alten Reederei anheuern müssen – und fahre jetzt mit 67 Jahren noch einmal für mehrere Monate auf einem Containerschiff nach Ostasien.