RadikalisierungWie Islamisten rekrutieren
Seit dem Krieg in Gaza finden immer wieder Kundgebungen statt. Extremismusexpertin Claudia Dantschke berichtet, wie Islamisten bei diesen Demos, aber auch an Unis oder auf Tiktok gezielt junge Menschen ansprechen – und wer die Akteure sind, die dahinterstehen.
Bei pro-palästinensischen Demonstrationen gehen auch bekennende Islamist*innen auf die Straße, so wie zuletzt am Wochenende in Hamburg. "Kalifat ist die Lösung" stand dort auf einem der vielen Plakate. Allein dieser Satz hat viele Menschen verstört in den letzten Tagen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verurteilte die Demo im Deutschlandfunk als "schwer erträglich" und forderte ein "hartes Einschreiten" des Staates. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) schrieb bei X: "Wem ein Kalifat lieber sein sollte als der Staat des Grundgesetzes, dem steht es frei auszuwandern."
Damit ist ein Phänomen wieder präsent, das hierzulande in den letzten Jahren nicht mehr so stark im Fokus stand wie zu früheren Zeiten: der radikale Islamismus. Hamburg war längst nicht die einzige Demo von Islamist*innen – spätestens seit dem Krieg in Gaza sind diese wieder häufiger öffentlich unterwegs in Deutschland.
Wer die Akteur*innen sind
Die Extremismusexpertin Claudia Dantschke leitet seit 2021 die Beratungs- und Deradikalisierungsstelle "Grüner Vogel e.V." in Berlin. Sie stellt fest, dass aktuelle islamistische Gruppierungen wie "Muslim Interaktiv" oder "Realität Islam" direkte Nachfolgeorganisationen der seit 2004 deutschlandweit verbotenen Kalifatsbewegung "Hizb ut-Tahrir" (Übersetzung: "Partei der Befreiung") sind.
Diese radikalislamische, antisemitische Gruppe wolle in islamischen Ländern zunächst eine instabile Situation herbeiführen, dort dann – zur Not auch mit Gewalt – die Macht ergreifen und schließlich ein Kalifat errichten. Dieses Kalifat soll sich dann sukzessive über die ganze Welt ausbreiten, so Claudia Dantschke.
Nach dem Verbot ihrer Vereinigung in Deutschland haben sich die Mitglieder von "Hizb ut-Tahrir" neu organisiert.
Ideologisch verhärtete Einzelpersonen
Seit einigen Jahren besetzen sie mit den Nachfolgeorganisationen nun wieder den öffentlichen Raum. Die Vereinigungen betreiben keine Moscheen, sondern sind Bündnisse von ideologisch verhärteten Einzelpersonen, die versuchen, möglichst viele Menschen zu mobilisieren, sagt Claudia Dantschke.
Drängende Themen wie die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben die Aufmerksamkeit einige Jahre lang vom Islamismus weggelenkt. Seine Akteure waren aber nie wirklich weg. Heute sind sie vor allem in den sozialen Netzwerken aktiv, wo sie weiter junge Menschen radikalisieren.
Von der Uni auf die Straße und ins Netz
Laut Claudia Dantschke kommen die "Hizb ut-Tahrir"-nahen Gruppen vor allem aus dem studentischen Milieu. Von Universitäten aus gingen sie auf die Straße, in die muslimische Bevölkerung hinein. Dabei würden sie auch massiv auf das Thema Islamfeindlichkeit setzen.
"Es gibt ja islamfeindliche Vorfälle. Die werden genutzt, um die Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben."
Die islamistischen Gruppierungen reden Musliminnen und Muslimen ein, dass Nicht-Muslim*innen sie niemals akzeptieren würden, so die Extremismusexpertin. Daher müssten sich alle Muslime zusammenschließen. Die angebotene Lösung: das Kalifat.
Multiplikator Tiktok
Heute ist laut Dantschke ein großer Teil der Mädchen gerade mal 13, 14 Jahre und der Jungs um die 14, 15 Jahre alt, wenn sie in diese Szene einsteigen. Das sei eine neue Qualität, die hauptsächlich an Tiktok liege.
"Sie nutzen ganz massiv Tiktok und kommen damit an immer jüngere Zielgruppen. Wir merken auch bei der Radikalisierung, dass die Leute immer jünger werden."
Die Sicherheitsbehörden haben bisher keine Schritte eingeleitet, um Nachfolgeorganisationen von "Hizb ut-Tahrir" wie "Muslim Interaktiv" oder "Realität Islam" zu verbieten. Claudia Dantschke weiß nicht, worauf sie noch warten.
"Warum die Nachfolgeorganisationen von 'Hizb ut-Tahrir' nicht verboten werden, ist mir ein absolutes Rätsel. Es wäre sinnvoll."
Damit islamistische Propaganda nicht mehr auf fruchtbaren Boden fällt, plädiert Claudia Dantschke sehr dafür, die Medienkompetenz in den Schulen weiter zu fördern, mit den Jugendlichen zu reden und sie aufzufangen. "Wenn jemand Diskriminierung erlebt, muss man sich um die Person kümmern."
Und: Man sollte immer wieder nachfragen.