WendekindJeannette Gusko: "Mehr Transformation wagen"
Jeannette Gusko ist eines von 2,6 Millionen Wendekinder, geboren in der damaligen DDR, aufgewachsen in der Bundesrepublik. Sie hätten während der Wende eine Transformationsfähigkeit erworben, deren Potenzial für die dringend notwendigen Veränderungen heute wichtig sei.
Gerade mit Blick auf das Superwahljahr 2024, allein drei Landtagswahlen in ostdeutschen Bundesländern, Wahlen in Österreich und die Europawahl, wo wichtige Weichenstellungen für die Zukunft stattfinden, sollte das Zeitfenster für Veränderungen genutzt werden. "Jetzt ist das Fenster für Veränderungen noch weit offen, irgendwann ist es zu spät", sagt Jeannette Gusko. Für diese Veränderungen brauche es von jedem Menschen eine Offenheit für andere Meinungen und Perspektiven. "Wir sollten einen Zusammenhalt finden in der Vielheit und Unterschiedlichkeit und produktiv streiten, um voran zu kommen", meint Jeannette Gusko.
"Ich beschäftigte mich Veränderung auf kognitiver Ebene. Was befähigt uns, die eigene Beharrung zu überkommen?"
Trotz der sich überlagernden Krisen weltweit sei genau jetzt der Moment, um innezuhalten und sich zu fragen: "Was sind die wünschenswerten Zukünfte, die wir wollen?" Es gebe schon so viele Menschen mit Transformationskompetenz, mit Ideen und Plänen, wie es anders sein könnte, die Netzwerke aufbauen, um diese Ideen umzusetzen.
"Es gibt keinen Grund jetzt apathisch zu sein, sondern viel mehr Gründe zu sagen, wir wählen das Wir, wir wählen eine empathische Verbundenheit untereinander."
Jeannette Gusko hat für ihr Buch "Aufbrechen" Interviews mit ganz unterschiedlichen Menschen in Deutschland geführt. Ihre Erkenntnis: Transformationskompetenz haben viele in Ostdeutschland, Wendekinder und Nachwendekinder, aber auch Bildungsaufsteiger*innen, Arbeiterkinder, die studieren, und Menschen der 2. und 3. Generation mit Migrationsbiografie.
Unter Transformationskompetenz versteht Jeannette Gusko die Fähigkeit eines Menschen zum Gestalten von Veränderung. Es sei eine Fähigkeit, die Personen entweder schon in sich tragen oder durch Erlebtes erwerben. Sie wollen und können mit Veränderungen umgehen, so Jeannette Gusko.
Transformationskompetenz erwerben und behalten
Die Transformationskompetenz entstehe, wenn man durch eine Wandelsituation gehe wie bei der friedlichen Revolution in Ostdeutschland und der Maueröffnung. In der Folge ist das System der DDR von dem System der Bundesrepublik abgewechselt worden. Dadurch änderte sich grundlegend das politische System, die Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. "Das war allumfassend und die Menschen waren gezwungen, auf diese neuen Lebensumstände zu reagieren", erklärt Jeannette Gusko. Sie ist unter anderem Sprecherin des Netzwerks 3te Generation Ost.
Auch die Wendekinder haben diesen Wandel durchlebt und haben gelernt zu prüfen, ob sie Altes im Neuem anwenden können, was von dem Alten zurückbleiben muss und wie sie sich Neues aneignen können.
"Ich bin in zwei System sozialisiert."
Wichtig sei, dass diese Transformationskompetenz dauerhaft bleibt. Wie stark diese ausgeprägt ist und ob eine Person diese Fähigkeit für sich heben kann, hänge davon ab, wie stark sie über diese Veränderungen und die Entscheidungen, die sie dabei getroffen hat, nachdenkt. "Die Reflektion über die Transformationskompetenz, dass ich etwas Wertvolles habe, das ich in mir trage, muss stattfinden", sagt sie.
Transformation wie im Fall der Nachwendezeit muss nicht nur als positiv wahrgenommen werden. Gerade im Übergang vom DDR- in das BRD-System gab es viele Verwerfungen für die Menschen im Osten. "Sie haben in einem System gelebt oder sind darin aufgewachsen, das im Kern um Arbeit herumstrukturiert war", erklärt Jeannette Gusko. Nach der Wende haben im Osten "massenhaft Menschen ihre Arbeit verloren. Das hat diese Gesellschaft extrem durchgerüttelt." Die daraus entstandene Verunsicherung haben auch die Kinder gespürt.
Gefühl von Sicherheit bei Veränderungen
Anstelle der Anerkennung der friedlichen Revolution in Ostdeutschland seien sehr schnell Lebensläufe abgewertet worden und der Verlust der Arbeit führte zu einem hohen ökonomischen Druck. Die Wendekinder seien unbelasteter als ihre Eltern in diese Transformation aufgebrochen und hätten gelernt damit klarzukommen. Dieses Gefühl, mit so einer Veränderung klarzukommen, gebe die Sicherheit, mit jedweder Situation klarzukommen und diese auch gestalten zu wollen.
"Die Menschen, die ich heute beschreibe, sind jung oder Erwachsene mittleren Alters, die gestalten wollen. Und das ist spannend."
Transformationskompetenz sei fließend, es gebe noch andere Menschen und Gruppen neben Ostdeutschen, Bildungsaufsteiger*innen und Migrant*innen, die diese in sich haben. "Ich habe die drei Gruppen gewählt, weil diese so offenkundig sind". Aufsteiger*innen tragen Transformationskompetenz in sich, weil sie die menschengemachte Systemgrenze Klasse überwinden, so Jeannette Gusko. "Der soziale Aufstieg oder Bildungsaufstieg ist der größte soziale Kleber, der diese drei Gruppen verbindet."
Jeannette Gusko betrachtet Transformationskompetenz als ein Set der verschiedensten Fähigkeiten. Dazu gehöre beispielsweis Selbstständigkeit, systemisches Denken, Multiperspektivität oder die Anpassungsfähigkeit, die Menschen mit Migrationsbiografie entwickeln müssen, um in der Gesellschaft überhaupt wahrgenommen und anerkannt zu werden.
Menschen mit Transformationskompetenz beteiligen
"Die Unterschiede zwischen transformationskompetenten und nicht transformationskompetenten Menschen sind riesig in Deutschland. Darüber sollten wir sprechen, wie wir das lösen können, " so Jeannette Gusko. Denn sonst bestehe die Gefahr, wenn keine Gestaltungsmöglichkeiten für das Potenzial der Menschen mit Transformationskompetenz geschaffen werden, dass sie damit alleine bleiben. Dabei brauche unsere Gesellschaft dieses für die dringend notwendigen Veränderungsprozesse hin zu einer klimagerechten Zukunft.
Tatsächlich gebe es auch schon Netzwerke von Menschen mit Transformationskompetenz, die Räume öffnen, in denen Bewusstseinswerdung stattfinde, es Austausch über Möglichkeiten und Chance gebe und demokratische Allianzen für Veränderung, Gestaltungswille und aber auch Sicherheit entstehen könnten.
Jeannette Guskos Zukunftsvision
"Meine wünschenswerte Zukunft ist, dass wir eine Möglichkeit gefunden haben, unsere Gesellschaft und unser Wirtschaftssystem so umzubauen, dass wir nachhaltig alle gut darin leben können, dass wir mehr Zeit haben für Dinge wie das politische oder zivilgesellschaftliche Ehrenamt, dass wir gemeinsam für mehr Gerechtigkeit und eine klimaneutrale Gesellschaft gearbeitet haben", so Jeannette Gusko.
Hört das ganze Gespräch mit Jeannette Gusko und Sebastian Sonntag, einfach oben auf den Playbutton klicken.