Wachen und ErwachenBlack Lives Matter und Evangelikalismus in den USA
Für evangelikale Christen ist der Begriff des Erwachens zentral, für die Black-Lives-Matter-Bewegung "Wokeness". Was diese beiden Ideen miteinander zu tun haben (und was nicht), erklärt der Kulturhistoriker Michael Hochgeschwender in seinem Vortrag.
Man mag es vielleicht kaum glauben, aber früher, im 19. Jahrhundert, da waren die Evangelikalen in den USA liberal. Sie beteiligten sich am Kampf gegen die Sklaverei, waren gegen die Todesstrafe, setzten sich für eine Justizreform ein und waren sogar an der Gründung der US-amerikanischen Frauenbewegung beteiligt. Heute ist das anders.
"Das wird alle, die heute Evangelikale für Ultrakonservative halten – was sie ja auch überwiegend sind – überraschen: Aber im 19. Jahrhundert waren die Evangelikalen liberal."
Wie und warum sich die Überzeugungen evangelikaler Christen in den USA so stark haben wandeln können, erklärt der Kulturhistoriker Michael Hochgeschwender in seinem Vortrag. Eine entscheidende Rolle für Evangelikale, sagt Hochgeschwender, spielt der religiöse Begriff des Erwachens – Awakening.
In verschiedenen Wellen von Awakening-Bewegungen haben sich in der Geschichte der USA evangelikale Strömungen gebildet, die sich gegen etablierte kirchliche und auch staatliche Strukturen richteten.
"Das Gros der Evangelikalen ist eigentlich unbedingter Befürworter der Demokratie mit egalitären Denkmustern und partizipativen Praktiken. Allerdings – und das ist die große Einschränkung – nur für diejenigen, die 'erwacht' sind."
Deswegen, so argumentiert Michael Hochgeschwender, waren die Evangelikalen in den USA eigentlich egalitär und Teilhabe war ihnen wichtig. Eigentlich. Denn es gibt einen Haken: Nur die, die im religiösen Sinne "erwacht" sind, gehören dazu. Alle anderen nicht, und zu diesen anderen gehören, so Michael Hochgeschwender, meist schwarze US-Amerikaner, Migranten und die sogenannten selbsverschuldeten Armen.
Die 1950er-Jahre sind das Ideal
Die Evangelikalen glauben, die USA stehen im Zentrum einer christlichen Apokalypse, auf die sie sich vorbereiten. Wenn man allerdings genau hinschaut, so Michael Hochgeschwender, sieht man, dass das Ideal der Evangelikalen weniger die Bibel ist als vielmehr die 1950er-Jahre.
"Schon im 19. Jahrhundert haben schwarze Wähler den Begriff 'stay woke' in Wahlkämpfen benutzt, um für die republikanische Partei, die damals ja noch eine liberale Partei war und die Partei der Schwarzen, politisch aufzurufen."
Auch für die "Black Lives Matter"-Bewegung spielt ein Wachheitsbegriff eine zentrale Rolle, die Wokeness. "Stay woke" heißt wörtlich "bleib wach". Diese Warnung spielte schon früh in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung eine Rolle, als Warnung vor Polizeigewalt.
Heute, so Michael Hochgeschwender, hat sich dieser Begriff auch auf andere Bewegungen für mehr soziale Gerechtigkeit ausgedehnt, wie zum Beispiel die queere Community. Verstanden wird der Begriff als Aufruf zu mehr Wachsamkeit und Achtsamkeit. Mittlerweile wird "Wokeness" aber vor allem negativ als Fremdzuschreibung verwendet.
"Der innere Zirkel von Black Lives Matter dehnte die Vorstellung von Wokeness aus und verknüpfte sie mit dem Aktivismus von LGBTQIA-Gruppen und mit sozialen Gerechtigkeitsidealen."
Der Begriff der Wokeness unterscheidet sich stark vom evangelikalen Begriff des Erwachens, argumentiert Michael Hochgeschwender. Er glaubt deswegen, dass es falsch ist, die heutige Wokeness-Bewegung als eine Art religiöse Bewegung zu verstehen.
Michael Hochgeschwender ist Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität Müchen. Sein Vortrag hat den Titel "Evangelikalismus und Wokeness: Zur gesellschaftlichen Funktion der Semantik des Erwachens". Er hat ihn am 8. Februar 2024 an der Humboldt-Universität Berlin gehalten im Rahmen der Mosse Lectures, die in diesem Jahr das Thema "Sleep Modes. Über Wachen und Schlafen" haben.