Vom Pilgern und FastenWie Religion heute noch funktionieren kann
Die katholische und die evanglische Kirche in Deutschland leiden unter Mitgliederschwund. Menschen treten aus den Kirchen aus oder werden gar nicht erst per Taufe Teil einer Gemeinde. Wie kann es dann aber sein, dass es bestimmte religiöse Praktiken gibt, die in einem zunehmend säkularen Umfeld an Popularität gewinnen? Die Antwort darauf kommt von dem Religionssoziologen Patrick Heiser.
Beten, Gottesdienstbesuch – das sind klassische religiöse Praktiken. Untersuchungen zeigen immer wieder, dass diese Praktiken in Deutschland rückläufig sind. Der Religionssoziologe Patrick Heiser von der Fernuniversität Hagen meint, seine Disziplin habe sich zu einseitig über lange Zeit mit diesem Schwund beschäftigt.
Organisationsgrad sinkt, religiöse Kernpraktiken erleiden Bedeutungsverlust
Und dabei aus dem Blick verloren, dass es auch religiöse Praktiken gibt, die zunehmen. Mit Ulrich Beck spricht er dabei von einem "Säkularisierungsparadox": Der Organisationsgrad der christlichen Kirchen sinkt, religiöse Kernpraktiken erleiden einen Bedeutungsverlust, dabei entstehen gleichzeitig neue Formen individueller Religion.
"Ich möchte explizit die Formen und Praktiken in den Blick nehmen, bei denen die Kurven nach oben weisen. Wir können daraus lernen, unter welchen Bedingungen Religion auch heute noch funktionieren kann."
Das Fasten und das Pilgern sieht Patrick Heiser als religiöse Praktiken, die aber individuell gefüllt und gelebt werden. Er hat Pilgernde auf dem Jakobsweg ebenso befragt wie fastende Menschen. Dabei wollte der Religionssoziologe wissen, was sie dazu motiviert und was sie dabei erleben. Religiöse Gründe wurden seltener genannt.
"Das meistgenannte Motiv der Pilgernden ist: Ich pilgere, um zu mir selbst zu finden. Deutlich seltener geht es um klassisch religiöse Motivationen. Noch nicht mal ein Viertel der Pilgernden sagt: Ich pilgere aus religiösen Gründen."
Patrick Heiser hat auch untersucht, weshalb und was Menschen fasten und dabei ein breites Spektrum von Verzichtsoptionen ausgemacht. Viele verzichten auf bestimmte Lebensmittel, zum Beispiel auf Fleisch, Alkohol oder Schokolade, Kohlenhydrate. Andere auf Medien – Fernsehen, Social Media, Bildschirmzeit. Und eine dritte Gruppe nimmt sich vor, auf Gewohnheiten oder Eigenschaften zu verzichten.
"Sie wollen verzichten auf Hektik, auf Lästern, auf Meckern, auf Lügen, auf die Benutzung von Rolltreppen und Aufzügen, auf Sex und Masturbation."
Dabei hat er festgestellt, dass viele Menschen im Rahmen einer traditionellen Fastenzeit verzichten, also im Ramadan oder vor Ostern. Insbesondere junge Menschen würden einen solchen Rahmen für ihren Verzicht wählen.
Patrick Heiser kommt zu dem Schluss, dass es sich sowohl beim Pilgern als auch beim Fasten eindeutig um religiöse Praktiken handelt. Darin sieht er eine Möglichkeit für Religion das eigene Überleben zu sichern, wenn es denn gelingt, deren Traditionen für individuelle Aneignung zu öffnen.
Der Vortrag
Patrick Heiser ist promovierter Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fernuniversität Hagen. Als Religionssoziologe beschäftigt er sich mit dem Wandel religiöser Praktiken.
Er hat Pilgernde auf den Jakobsweg und online Fastende befragt. Seinen Vortrag mit dem Titel "Vom Pilgern und Fasten: Gelebte Religion in der späten Moderne" hat er am 17. Februar 2021 im Rahmen der Bürgeruniversität Coesfeld gehalten.