Stephan verliert seine Gedanken"Wenn du was verlierst, geht die Geschichte erst los"
Erinnern ist gut, vergessen ist Mist - so hat Stephan das gelernt. Vergessen ist peinlich. Und darum ärgert er sich, weil ihm das immer wieder passiert. Von vergessenen Abfahrten, verlorenen Portemonnaies und vermurksten Plänen erzählt er uns in der Einhundert.
Anmerkung: Dieser Text ist die Grundlage für einen Radiobeitrag. Der beinhaltet Betonungen und Gefühle, die bei der reinen Lektüre nicht unbedingt rüberkommen. Darum lohnt es sich, auch das Audio zu diesem Text zu hören.
Als ich neulich auf der Autobahn fahre, auf dem Weg nach Köln, in den Rückspiegel schaue und meine Tochter sehe, da ist es auf einmal wieder: Dieses unangenehme Gefühl, komplett den Verstand verloren zu haben - oder zumindest ein paar wichtige Teile davon. Der Plan war, erst am Kindergarten in Bonn zu halten, dann auf die Autobahn nach Köln. Also nächste Abfahrt runter und in Gedanken zurück: Wo ist mir der Plan abhanden gekommen?
"Wo habe ich eigentlich wichtige Teile meines Planes verloren? Peinlich!"
Wenn ich alle verlorenen Haustürschlüssel, alle vergessenen Geburtstage, alle verpeilten "Mach-ich-sofort-Aufgaben" und alle verschlampten, guten Ideen für den Einstieg in so einen Beitrag - wenn ich all das als kleine Perlen auf eine Kette reihen könnte, dann wäre meine Kette ziemlich lang. Auf jeden Fall länger als die der meisten von euch. Sicher.
Erinnern und behalten ist gut, vergessen ist ein Mangel. So hab ich das gelernt. Vergessen ist peinlich. Ja, aber eigentlich auch wieder nicht. Ich erinnere mich jedenfalls noch ziemlich genau an den Moment, wo ich beschließen konnte, dass mir das nicht peinlicher sein sollte, als unbedingt nötig.
Zwei Beispiele aus meinem Leben
Italien, Comer See, Uferpromenade. Ich bin dort, weil ich auf einer Tagung arbeite, als Hilfskraft, und es gibt eine halbe Stunde für einen Mittagsspaziergang. Und bei dieser Tagung in Italien habe ich die Möglichkeit, endlich mal mit jemandem darüber zu sprechen, der Ahnung hat.
Harald Welzer, Sozialpsychologe, Soziologe und erklärter Fan des Gedanken-Verlierens und Vergessens. Er ist Speaker auf der Tagung und läuft gerade keine zwei Meter vor mir. Ich nutze die Zeit, die entscheidenden Beispiele für Welzer zurechtzulegen, wie zum Beispiel: Als ich am Bahnhof bin, auf den verspäteten Zug nach Darmstadt warte, wo wir Freunde besuchen wollen. Mir tut vom Sitzen der Hintern weh, ich merke, das liegt am Portemonnaie in der Hosentasche. Ich nehme es raus und lege es auf die Bank zwischen Melanie und mich. Dann steige ich in den Zug, und im Moment, wo die Tür zu geht, denke ich "Scheiße!"
Oder dieser Freitagmittag, herrliches Wetter. Ich bin zu der Zeit Zivildienstleistender und mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass 90 ältere Leute am Samstag und Sonntag ihr bestelltes Essen bekommen. Mein Vorgänger sagte noch: "Vergiss nicht, die Excel-Tabelle nach dem Ausdrucken noch einmal zu checken." Aber irgendwie war der Ratschlag verloren gegangen.
Mittlerweile laufe ich neben Harald Welzer. Wir plaudern ein bisschen, und dann erzähle ich ihm meine Beispiele.
Die Geschichte mit dem Portemonnaie: Der Zug sollte Melanie und mich nach Darmstadt fahren, zu unseren Freunden. Aber als klar ist, dass das Portemonnaie weg ist, hab ich keinen Bock mehr. Schlimme Selbstzweifel. Wir steigen in Koblenz aus, sagen unseren Freunden ab und fahren zurück nach Bonn. Dort suchen wir den Bahnhof ab. Die Freunde, Melanie, alle haben Verständnis.
"Niemand sagt 'Verlierer' - aber manchmal macht es das noch schwerer."
Die Geschichte aus dem Zivildienst: Weil ich bestimmte Zellen in der Excel-Tabelle, die normalerweise ausgeblendet waren, an dem Tag eingeblendet hatte, war so gut wie alles in der Liste verrutscht. Niemand bekommt das Essen, das er bestellt hatte. Manche, die bestellt haben, warten vergeblich auf Essen. In einem Fall hat der Zivi geklingelt und gesagt: "Hier, das Essen für ihren Mann" und die Frau antwortete unter Tränen: "Der ist doch schon seit über einem Jahr tot."
Wer vergisst, wird gedisst
Harald Welzer hört mir zu und ich schiebe noch hinterher, dass ich ständig gespiegelt bekomme, dass dieses Gedankenverlieren asozial ist, weil ich so quasi absichtlich andere darunter leiden ließe. Harald Welzer sagt: Bei uns haben die Menschen, die sich gut erinnern können, die moralische Überlegenheit. Und Leute, die viel vergessen und Gedanken verlieren, die dürfen darum einfach so gedisst werden.
Genauso war das auch beim Zivildienst. Eine Kollegin hat mich bis zum Ende meiner Zeit immer wieder mit meinem Excel-Tabellen-Fehler aufgezogen. So nach dem Motto: "Aber sei nicht wieder so unzuverlässig!". Dass die Sache dazu führte, dass wir den Workflow umgestellt haben und daraus eine Geschichte entstanden ist, die wir uns heute noch gerne erzählen, das hat sie natürlich nicht interessiert.
Was so jemand wie meine Ex-Kollegin vom Zivildienst nicht versteht: Immer, wenn du was verlierst, geht ja die Geschichte erst richtig los. Indiana Jones jagt den verlorenen Schatz, Gollum seinen verlorenen Ring, und Julianne Moore in "Still Alice" ihre verlorene Erinnerung.
Das Portemonnaie, das ich damals am Bahnhof liegen gelassen hab, ist übrigens in Bonn wieder aufgetaucht. Hatte jemand bei der Polizei abgegeben. Alles noch drin. Wir sind dann zwei Stunden später doch noch nach Darmstadt gefahren, zu unseren Freunden, und haben an dem Abend ziemlich lange zusammen gesessen. Wir hatten ja was zu feiern. Und irgendwie haben wir wohl das Gefühl für die Zeit verloren.