Unsichtbare BehinderungenWie wir achtsam miteinander umgehen
Anky hat Multiple Sklerose. Die Erkrankung sieht man ihr nicht an. Andere reagieren deshalb oft mit Unverständnis. Jonas Fischer vom Sozialverband VdK kennt die Herausforderungen von Menschen mit unsichtbaren Behinderungen. Er erklärt, was Nicht-Betroffene besser machen können.
Menschen in Rollstühlen, mit Gehhilfen oder Blindenstöcken: Diese Bilder kommen vielen zuerst in den Sinn, wenn sie an körperliche Behinderungen denken. Es gibt aber auch Erkrankungen und Einschränkungen, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Wie lebt es sich, wenn wir aus bestimmten Gründen vielleicht beeinträchtigt sind, andere das aber erstmal gar nicht erkennen?
Vom Taubheitsgefühl zur Diagnose: Multiple Sklerose
Anky hat Erfahrungen damit. Bei ihr wurde Ende 2011 Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert: "Das hat Anfang November angefangen, dass plötzlich meine linke Gesichtshälfte taub geworden ist. Dann haben mein Hausarzt und ich damals noch an einen eingeklemmten Nerv oder so gedacht. Und dann ist Anfang Dezember auch die linke Hand taub geworden. Es stand erst einmal der Verdacht auf Hirntumor im Raum, was sich Gott sei Dank nicht bestätigt hat."
MS ist eine chronische, entzündliche, neurologische Autoimmunerkrankung. Das körpereigene Immunsystem fängt an, die Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark zu beschädigen. Am häufigsten tritt die schubartige Variante auf, so wie bei Anky: "Dabei kann es immer wieder zu plötzlichen Ausfallerscheinungen kommen, darunter Lähmungen oder Taubheit. Die können sich aber auch wieder zurückbilden – manchmal sogar vollständig." Behandelt wird Anky mit hochdosiertem Cortison.
"Es ist eine heftige Dröhnung. Wer Cortison kennt, weiß, dass das Nebenwirkungen hat: Dieses typische Cortison-Gesicht, das man Wassereinlagerungen im Gesicht, in den Beinen, im ganzen Körper hat."
Neben den optischen Veränderungen durch das Cortison treten bei Anky beispielsweise auch Heißhungerattacken auf.
Anky sagt, dass sie ihre Krankheit inzwischen akzeptiert hat und gut damit leben kann. Gerade am Anfang hatte sie aber Probleme und hat die Erkrankung eher verdrängt: "Ich wollte es eigentlich gar nicht wirklich wahrhaben und habe weitergemacht wie immer. Dann ist das Ganze in einer fetten Depression geendet und ich musste mich wirklich mit dieser Krankheit auseinandersetzen."
"Mittlerweile habe ich es akzeptiert, und ich sage immer: Die MS gehört zu mir. Sie wird nicht ein Leben lang begleiten, aber sie bestimmt nicht mein Leben."
Die größte Herausforderung im Alltag ist für Anky, dass sie sich oft rechtfertigen muss, weil ihre Krankheit nicht so offensichtlich ist. Neben der MS-Erkrankung leidet sie nämlich auch noch unter dem Fatigue-Syndrom: "Ich habe nur noch eine begrenzte Menge an Energie, sodass ich halt wirklich schneller müde werde und selten richtig fit bin. Da muss man das immer wieder den Menschen auch erklären, warum man jetzt heute nicht so belastbar ist, wie man vielleicht vor ein paar Tagen noch war."
Mitmenschen reagieren mit Unverständnis
Anky sagt, dass sie in der Öffentlichkeit schon öfter gemustert wurde und ihre Mitmenschen nicht verstanden haben, warum sie einen Schwerbehindertenausweis braucht – obwohl sie nicht im Rollstuhl sitzt.
"Oder auch, wenn man dann doch mal die Behindertentoilette benutzt und da eben laufend rauskommt, kriegt man dann schon mal so Blicke zugeworfen."
Aus Ankys Sicht werden Menschen mit einer offensichtlichen Krankheit anders behandelt als Menschen, die augenscheinlich gesund sind. Viele würden erst mal stutzig reagieren. Deshalb muss sie häufig Gespräche führen und ihre Mitmenschen über ihre Erkrankung aufklären.
Es gibt Situationen, da macht sie das gerne – aber manchmal auch nicht: "Es kommt immer darauf an, wie das Gegenüber fragt. Also wenn da jemand kommt und mich mit Vorwürfen bombardiert, hab ich eigentlich schon gar keinen Bock, dem das zu erklären. Wenn aber jemand wirklich nett fragt 'Warum dürfen sie jetzt da aufs Behindertenklo?', dann macht mir das eigentlich auch nichts aus, weil ich einfach merke: Das sind Menschen, die wollen das verstehen."
Anky leistet auch Aufklärungsarbeit auf ihrem Blog. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass ihre Mitmenschen ihr und anderen Leuten mit nicht offensichtlichen Krankheiten mit mehr Empathie begegnen.
"Dass die Leute einfach lernen, dass auch, wenn man eine Krankheit nicht sieht, sie einfach empathischer mit den Leuten umgehen und sie nicht immer mit diesen ganzen Vorurteilen über eine Krankheit konfrontieren."
Gleichberechtigte Teilhabe im Alltag erschwert
Ähnliche Erfahrungen wie Anky macht auch Jonas Fischer. Er ist Leiter der Abteilung Sozialpolitik beim Sozialverband VdK Deutschland e.V., der sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt und seinen Mitgliedern unter anderem Sozialrechtsberatung sowie Vertretung vor Sozialbehörden und Gerichten bietet.
Seiner Meinung nach haben es Menschen mit offensichtlichen, aber auch mit nicht offensichtlichen Behinderungen nach wie vor schwer in der Gesellschaft. Das liegt seiner Meinung nach an gesellschaftlichen Vorurteilen, aber auch an offensichtlicher Diskriminierung oder fehlender Anerkennung. Bei Menschen mit nicht direkt ersichtlichen Einschränkungen liege es vor allem an der fehlenden Anerkennung.
"Ihnen wird viel zu häufig Simulantentum und Faulheit vorgeworfen. Menschen mit unsichtbaren Behinderungen befinden sich also in einem ständigen Rechtfertigungsdruck."
Jonas Fischer kritisiert, dass sich Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen ständig rechtfertigen müssen und so zusätzlich psychisch belastet sind.
Seiner Ansicht nach liegt es auch daran, dass diese Menschen an einem Tag topfit sein können und am nächsten Tag – durch die Erschöpfung oder körperliche Beeinträchtigung – massiv eingeschränkt sind: "Das irritiert die Mehrheitsgesellschaft. Sie ist offenbar darauf angewiesen, klar zu kategorisieren: Dieser Mensch hat eine Behinderung und dieser Mensch hat keine."
"Deutschland braucht mehr Barrierefreiheit"
Um dem entgegenzuwirken, sollten Menschen aber nicht dazu gedrängt werden, ihre Behinderung sichtbar zu machen, findet Jonas Fischer: "Das muss die Entscheidung eines jeden Menschen selbst sein. Also ich finde auf keinen Fall darf es eine Schlussfolgerung sein, dass jetzt jeder seine Diagnose offen vor sich hertragen muss. Das ist etwas sehr Privates."
Stattdessen sollte die Gesellschaft alle Menschen mit ihren Einschränkungen ernst nehmen. Dieses Bewusstsein sei viel zu häufig nicht da, sagt Jonas Fischer. Für mehr Barrierefreiheit im Alltag zu sorgen ist seiner Meinung nach ein weiterer wichtiger Schritt.
"Die fehlende Barrierefreiheit schränkt Menschen mit sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen gleichermaßen ein."
Seine Einschätzung ist, dass Menschen mit sichtbaren Behinderungen offensichtlicher als hilfebedürftig wahrgenommen werden: "Menschen mit unsichtbaren Behinderungen haben in Situationen, in denen sie vor einer Barriere stehen, zusätzlich noch die Barriere, Menschen proaktiv ansprechen zu müssen und unter Umständen auf Unverständnis zu treffen. Das alles haben wir nicht, wenn wir eine barrierefreie Welt haben."
VdK kritisiert Bundesregierung
Der Sozialverband VdK kritisiert diesbezüglich die Bundesregierung. "Sie hat in ihrem Koalitionsvertrag eine umfassende Reform zur Barrierefreiheit angekündigt. Hierzu sollten das AGG [Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz] und das BGG [Behindertengleichstellungsgesetz] geändert werden. Bis heute ist davon nichts geschehen", sagt Jonas Fischer.
Der Sozialverband VdK wartet darauf, dass auch private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Das würde die Teilhabe von Menschen mit sichtbaren und unsichtbaren Behinderungen extrem erleichtern, so der Verband. "Bisher haben wir nur Regelungen für den öffentlichen Raum", erklärt Jonas Fischer. "Doch das Leben der Menschen besteht halt nicht nur aus Behördengängen, sondern vor allem auch aus Kinobesuchen und Kneipenbesuchen."