Krieg in der UkraineUkraine-Front: Die Hoffnung, einen Tag weiterzuleben
In der Ukraine spitzt sich die Lage zu. Russland verstärkt seine Angriffe unter anderem auf die Großstadt Saporischschja im Süden des Landes. Wie leben die Menschen dort nahe der Front? Und wie viel Hoffnung haben sie noch, den Krieg zu gewinnen?
Artem lebt mit seiner Mutter in der Nähe der südukrainischen Stadt Saporischschja – rund 20 Kilometer von der Kriegsfront entfernt. Seit über zwei Jahren hat Artem eine gepackte Tasche in der Ecke stehen – für den Fall, dass er sein Zuhause überstürzt verlassen muss.
In den letzten Wochen haben die Angriffe auf seine Stadt zugenommen, berichtet Artem. Dadurch, dass ständig Bombenalarm herrscht, ist der Krieg allgegenwärtig. Ihn gelegentlich mal auszublenden, ist schwerer geworden, sagt Artem. Zugleich habe er sich aber auch an den Dauerzustand gewissermaßen gewöhnt.
Ständiger Bombenalarm gehört zum Alltag
Tagsüber begibt sich Artem kaum noch in den Keller, um vor Bombenangriffen Schutz zu suchen. Der Krieg beherrscht den Alltag. Insbesondere von denjenigen, die an der Front kämpfen oder in den Krankenhäusern arbeiten. Die Zivilisten sind immer mit dem Ausnahmezustand konfrontiert. Und gerade deswegen setzen viele ihren Alltag einfach fort, selbst wenn die Alarmsirenen ertönen, berichtet unsere Korrespondentin Rebecca Barth.
"In den letzten Wochen hat der Beschuss mit Gleitbomben auf diese Stadt zugenommen und gegen diese Bomben kann man sich kaum verteidigen. Aktuell richten sie enormen Schaden in Saporischschja an.
Hauptsächlich verbringt Artem seine Tage mit Gartenarbeit oder er arbeitet online an IT-Projekten. Zumindest dann, wenn Strom vorhanden ist. In der Regel sucht er nur nachts im Keller Schutz, weil die russische Armee dann verstärkt angreift. Artem hat immer noch die Hoffnung, dass die Ukraine den Krieg für sich entscheiden kann. Eine Hoffnung, die er anscheinend braucht, um weitermachen zu können. Sich ab und an mal vom Kriegsgeschehen abzulenken, um abzuschalten, ist inzwischen deutlich schwerer für ihn geworden.
"Wenn wir Strom und Internet haben, kann ich arbeiten. Aber wenn ich während der Arbeit einen Luftalarm höre, frage ich mich: Soll ich weiterarbeiten oder mich lieber im Keller verstecken?"
Artems Vater ist im Januar verstorben. Zwar nicht an einer Kriegsverletzung, aber Artem ist trotzdem davon überzeugt, dass der Stress, den der Krieg bei seinem Vater bewirkt hat, mit für dessen Tod verantwortlich ist. Dennoch möchte Artem keine Waffenruhe. Für ihn ist ein Waffenstillstand schlimmer, als das es weitergeht wie bisher. Denn Artem geht davon aus, dass eine Waffenruhe Russland die Chance bieten würde, neue Kraft zu sammeln, um die Angriffe danach gestärkt fortzusetzen.
"Ein Waffenstillstand ist schlimmer als den Krieg zu verlieren. Waffenstillstand bedeutet, dass Russland die Armee sammelt, sie verstärkt, den Westen beruhigt und uns wieder angreift.“
Unsere Korrespondentin Rebecca Barth war in der Region Saporischschja unterwegs und hat mit Ärzten und Soldaten gesprochen. Insbesondere mit einem verletzten Soldaten, der sich vor rund einem Jahr rekrutieren ließ, um seine Heimstadt von der russischen Besatzung zu befreien. Aber er hat inzwischen wohl kaum noch Hoffnung, dass das gelingen kann, berichtet unsere Korrespondentin.
Selenskyjs Strategie geht möglicherweise nicht auf
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj trifft sich weiterhin mit vielen Staatsoberhäuptern, um mehr Unterstützung für sein Land zu bekommen. Bisher kam die Hilfe von anderen Staaten zu spät und war zu gering, sagt Rebecca Barth. Im Moment sei es aus russischer Sicht so, dass Russland den Krieg gewinnen könne, deswegen habe der russische Präsident auch kein Interesse daran zu verhandeln, sagt unsere Korrespondentin. Die Aussicht darauf, dass Donald Trump wieder Präsident der USA werden könnte, besorgt viele Ukrainer. Denn dann müsste das Land damit rechnen, dass es keine Unterstützung mehr von der Großmacht erhält.
Weitere Gespräche mit Artem aus Saporischschja:
Angst ums Überleben: Ständig Alarm und die Frage nach der Flucht (23.02.2024)
Krieg in der Ukraine: "Eine Woche können wir im Keller leben" (05.07.2023)
Kriegsalltag: "Wir hoffen, dass wir morgen noch am Leben sind" (23.09.2023)