Überfall, Mord, ZwangsarbeitErinnerungskultur: Deutsche Verbrechen in der Ukraine
Sechs Millionen Ukrainer kämpften ab 1941 nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht in der Roten Armee oder als Partisanen. Zwischen sechs und acht Millionen Ukrainer starben im Krieg oder wurden als Juden oder Roma als Zwangsarbeitende nach Deutschland verschleppt. Die Osteuropa-Historikerin Marie Grünter spricht über deutsche Verbrechen in der Ukraine und die Erinnerung daran.
Trotz hoher Opferzahlen von Ukrainern und Ukrainerinnen im Zweiten Weltkrieg sind die Verbrechen der Deutschen in der Ukraine in der Erinnerung hierzulande weniger präsent als andere Kapitel dieses Krieges.
Die Historikerin und Osteuropa-Expertin Marie Grünter beginnt ihren Vortrag mit einem Auszug aus Wassili Grossmans Reportage "Ukraine ohne Juden" aus dem Jahr 1943.
"Mir scheint, dass es in dieser grausamen und schrecklichen Zeit, in der unsere Generation dazu verurteilt ist, auf der Erde zu leben, nicht erlaubt ist, sich mit dem Verbrechen abzufinden, dass es nicht angeht, gleichgültig und sich selbst und anderen gegenüber moralisch anspruchslos zu sein."
Wassili Grossman war zu Beginn der 1940er-Jahre als Kriegsreporter mit der Roten Armee unterwegs, auch auf dem Territorium der heutigen Ukraine.
Niemand übrig, der über den Genozid sprechen konnte
Er beschreibt, wie gründlich die deutsche Wehrmacht die ukrainischen Juden ermordet hat: Ganze Dörfer waren verschwunden und niemand war mehr übrig, der über den Genozid berichten konnte.
Laut Marie Grünter lebten vor dem Zweiten Weltkrieg etwa 1,5 Millionen jüdische Menschen im Gebiet der Ukraine. Nur ein Bruchteil davon, etwa 100.000 Menschen, überlebten den Massenmord. Die meisten starben in der Nähe ihrer Wohnorte oder in Gettos.
Massenmord an jüdischen Ukrainern und Ukrainerinnen
Die Vernichtung der ukrainischen Juden erfolgte zum großen Teil als "Holocaust durch Kugeln". Die Menschen wurden zusammengetrieben und erschossen. So wie am 29. und 30. September 1941 in Babyn Jar, einer Schlucht bei Kiew: Die jüdische Bevölkerung Kiews sollte sich mit ihren Wertsachen außerhalb der Stadt einfinden. Sie wurden an den Rand der Schlucht geführt und dort ermordet.
"Innerhalb von zwei Tagen wurden in Babyn Jar etwa 34.000 Jüdinnen und Juden erschossen. Von der SS und der Wehrmacht."
Die Erinnerung an die jüdischen Opfer der deutschen Besatzer wird in der Sowjetunion eingeebnet in die Erinnerung an getötete Zivilisten.
Der Dichter Jewgeni Jewtuschenko bringt das Massaker 1961 mit seinem Gedicht "Über Babi Jar, da steht kein Denkmal" zurück ins öffentliche Bewusstsein.
Die Historikerin Marie Grünter beschreibt, dass Probleme mit der Versorgung der Wehrmachtstruppen auf ihrem Ostfeldzug zwar absehbar gewesen seien, aber erklärtermaßen von den Kommandierenden in Kauf genommen wurden. Die Versorgung der Truppen sollte so auf Kosten der einheimischen Bevölkerung gewährleistet werden.
Auch Zwangsarbeit betraf zahlreiche Ukrainer und Ukrainerinnen, sie wurden ins Deutsche Reich verschleppt, um dort in der Kriegswirtschaft ausgebeutet zu werden.
"Dementsprechend wurden oft junge und kräftige Menschen ins deutsche Reich verschleppt."
Auch die historische Erfahrung dieser Menschen wurde, so sie nach Kriegsende in ihre Heimat zurückkehren konnten, tabuisiert.
Der Vortrag
Marie Grünter ist Osteuropa-Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven. Ihren Vortrag mit dem Titel "Überfall, Mord, Zwangsmigration. Deutsche Verbrechen in der Ukraine und die Erinnerungen daran" hat sie am 10. November 2022 am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven gehalten, im Rahmen der Reihe "Lost in War".