Timur über toxische Feelgood-Vibes"Warum darf ich nicht einmal traurig sein?"
Social Media sagt uns: "Du kannst heute dankbar sein für die Dinge, die du hast." "Nein", entgegnet Timur. Und erzählt uns, warum Dauer-Positivität toxisch sein kann.
"Beschließe glücklich zu sein, denn Glück ist eine Entscheidung." Solche Sätze liest man oft in sozialen Medien. Eigentlich sollen uns diese Sprüche empowern. Doch das sieht nicht jeder so.
"Es gibt kaum schlimmere Sätze als diese. Das macht mich wütend, fassungslos und stellenweise auch ein bisschen traurig."
Timur selbst hat sich wegen Angststörungen und depressiven Episoden therapeutische Hilfe geholt. Der Happy-Hype auf Instagram und Co. ist ihm aber ein Dorn im Auge.
Denn: Laut Timur handelt es sich bei toxischer Positivität um einen "krass übertriebenen Optimismus". Dabei konzentriere man sich ausschließlich auf die positiven Dinge im Leben. "Ein Mindset, in dem alles Negative soweit weggedrängt wird, wie möglich."
Anhand eines Beispiels über ein gebrochenes Bein veranschaulicht Timur das Problem. "Eine toxisch positive Person würde mir sagen, dass ich noch ein gesundes Bein habe, und dass das viele Leute nicht haben. 'Du kannst so dankbar dafür sein, dass du dieses Bein hast, vergiss doch mal das andere'." Laut Timur könne man das kaputte Bein aber eben nicht einfach so links liegen lassen. So würde man Gefahr laufen, irreparable Schäden davon zutragen. Ähnlich verhalte es sich mit psychischen Problemen.
Timur findet, dass das viele Leute nicht verstehen, "weil es nicht ganz so komfortabel ist".
Dankbarkeit hat ihre Grenzen
Laut Timur ist toxische Positivität eng an "toxische Dankbarkeit" gekoppelt. Er glaubt, dass man nicht für alles dankbar sein muss. Vor allem wenn man als Opfer leid erfährt. Denn: Nicht alle Dinge sind ein Zugewinn für uns und unser Leben, denkt Timur. Vor allem stören ihn die Unterschiede im Umgang mit psychischen und physischen Leiden.
"Wenn ich zehn Mal über eine Straße gehe und beim zehnten mal werde ich überfahren, dann würde kein Mensch sagen, wie dankbar ich dafür sein kann, dass ich neun Mal nicht überfahren wurde. Aber bei der Psyche passiert das ganz schnell."
Hört auf mit "hör auf zu weinen"!
Darum wünscht sich Timur, dass wir uns mehr mit den unschönen Dingen im Leben befassen. "Es ist wichtig, dass ich mich besonders mit den Dingen, die mir Schmerz und Leid bescheren, beschäftige, denen auf die Schliche gehe und den Ursprung ergründe." Denn so könnten wir Dinge überhaupt erst lösen.
Timur denkt, dass wir alle darauf gedrillt sind, dass Positive hervorzuheben und negative Gedanken zu verdrängen. Das sehe man schon an unseren Versuchen, weinende Menschen so schnell wie möglich zu trösten und die Tränen vergessen zu machen. Wenn aber jemand lacht, bejubeln wir ihn noch.