Sybille Pieck über ihre Mutter"Du hast mich nie gewollt"
Als Sybille Pieck zur Welt kommt, will ihre Mutter das Kind eigentlich gar nicht. Sie kümmert sich zwar um ihre Tochter, richtige Zuneigung bekommt Sybille aber nie von ihr. Sie kämpft ihr ganzes Leben um die Liebe ihrer Mutter - erfolglos. Erst nach dem Tod der Mutter kann Sybille das emotionale Trauma verarbeiten.
Anmerkung: Dieser Text ist ein Gesprächsprotokoll und die Grundlage für einen Radiobeitrag. Der beinhaltet Betonungen und Gefühle, die bei der reinen Lektüre des Textes nicht unbedingt rüberkommen. Darum lohnt es sich diesen Text als Audio zu hören.
Wir waren hier in Bonn in einem großen Kaufhaus und meine Mutter ist mit mir Richtung Kasse gegangen. Sie hatte schon einiges ausgesucht. Ich war drei Jahre alt, war klein. Dann sagt sie ganz hektisch: "Ich hab noch was vergessen." Bleib mal hier stehen in der Schlange, ich komme gleich wieder. Und sie kam nicht zurück. Sie kam und kam und kam nicht zurück. Für mich als kleines Kind. Ich erinnere immer nur, ich sehe Knie von Tausenden von Menschen und ganz viele Menschen um mich rum.
Die Schlange rückte immer weiter nach vorne.
Natürlich sie kam wieder, aber das weiß ich nicht mehr. Das ist nur dieser Moment: Du hast mich alleine gelassen, sie hat mich alleine gelassen.
Das ist eigentlich so auch der, der wichtigste Punkt in dieser Schwierigkeit mit meiner Mutter. Sie war da, sie hat sich gekümmert, aber ich war immer alleine.
"Sie hat sich gekümmert, aber ich war immer alleine."
Mein Vater ist sehr früh gestorben, meine Mutter ist dann wieder arbeiten gegangen. Und ich hab eigentlich den ganzen Tag nach der Schule zu Hause gesessen und auf meine Mutter gewartet, dass sie endlich kommt und dass sie mich dann auch sieht. Dass sie sich einfach mal ein bisschen Zeit für mich alleine nimmt. Es ist nie passiert. Einfach mal zu kuscheln, einfach mal in den Arm genommen zu werden von meiner Mutter oder sie mal selber in den Arm nehmen zu dürfen.
Die Mutter macht die Tochter für ihr Unglück verantwortlich
Ja, wie hab ichs rausgefunden? Fangen wir mal so an. Ich habe als erwachsene Frau, da war mein Sohn schon drei oder vier Jahre alt, eine riesige Auseinandersetzung mit meiner Mutter gehabt. Und in diesem Zusammenhang hab ich ihr gesagt, du hast mich ja nie gewollt. Und darauf hat sie ganz spontan gesagt: Ja. Und damit muss ich jetzt für den Rest meines Lebens leben.
Das hat mir wirklich die Sprache verschlagen.
Ihr Traum war, nach Amerika auszuwandern und dort das große Leben zu leben. Halt, was sie sich so vorstellte. All das war dahin. Dass ich ein sogenannter Unfall gewesen bin und sie musste dann heiraten, im 5. Monat und in schwarz. In ihren Augen war ich der sichtbare Beweis dafür, dass das schiefgelaufen ist.
"Ich hab meine Mutter immer geliebt und ich wollte unbedingt diese Liebe von ihr spüren, körperlich spüren."
Meine Mutter hat ein ganz schlimmes, für sie schlimmes Erlebnis gehabt in ihrem Job. Da war ich aber schon junge Erwachsene. Und sie hat bitterlich geweint. Dann wollte ich sie in den Arm nehmen oder ich hab versucht sie in den Arm zu nehmen. Da hat sie mich sowas von weggestoßen. Sie konnte meine Nähe nicht ertragen. Trotzdem habe ich im Grunde bis zum Schluss nicht aufgegeben.
Mit der Mutter ins Gespräch kommen
Ich habe immer wieder versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Den größten Teil meiner Freizeit habe ich im Grunde mit ihr verbracht.
Ich bin sogar so weit gegangen, dass ich sie zur Geburt meines Sohnes mitgenommen habe, den hab ich alleine erzogen. Weil ich gedacht habe, wenn sie mich jetzt schon nicht als Tochter annehmen kann dann wenigstens als Mutter, als Frau. Und der Manuel, mein Sohn, war gerade geboren, da hat sie ihn dann genommen und hat gesagt, mal sehen, was er zuerst sagen wird: "Mama oder Oma?" Ich weiß nicht, ob ich es jemals vergessen kann als einen wahnsinnigen Schlag.
Sie hat meinen Sohn auch letztendlich als ihren Sohn angenommen. Sie ist, auch wenn ich nicht dabei gewesen bin, überall mit ihm gewesen und hat gesagt, das ist mein Sohn.
Und trotzdem bin ich mit meinem Sohn immer und immer und immer wieder da hingefahren. Immer noch in der Hoffnung und in dem Wunsch, dass diese Tür aufgeht.
"Was mir spontan einfällt ist dieser Spruch: Der Krug geht so lange zum Wasser bis er bricht."
Ich habe dann wirklich die Liebe meines Lebens als Mann gefunden 2005. Seitdem bin ich mit meinem jetzigen Lebensgefährten zusammen. Da fing es dann an, dass meine Mutter auch anfing, im Grunde mir meinen Mann zu nehmen.
Ich sehe immer dasselbe Bild: Sie steht in der Küche und ich komme rein und sag ihr "Guten Tag" und ich bin Luft. Und sie geht auf meinen Lebensgefährten zu, nimmt ihn in den Arm, sie ist sehr viel kleiner, er ist sehr groß, und küsst ihn von oben bis unten ab, wirklich in einer Form, wo mir schlecht wird. Das habe ich dann sehr viele Jahre mitgemacht.
Das nahm auch immer mehr zu, wie sie meinen Lebensgefährten angemacht hat. Sie hat sich alles genommen, vielleicht weil ich ihr ja alles genommen habe, warum auch immer.
Und dann habe ich irgendwann gesagt, jetzt ist Schluss mit lustig, und hab ihr dann einen Brief geschrieben. Dass ich das so nicht mehr mitmachen will und auch nicht mehr mitmachen kann. Und dass sie mir schon meinen Sohn versucht hat wegzunehmen und jetzt auch meinen Lebensgefährten. Und das kann ich so nicht mehr ertragen. Und ich würde ihr anbieten, dass wir versuchen, wirklich mal grundsätzlich unsere Beziehung auf eine neue Ebene zu stellen, uns auszusprechen. Und wenn sie dazu nicht bereit ist, wollte ich sie nicht mehr sehen.
Die Befreiung von der Mutter
Von dem Moment an habe ich eine riesige Befreiung gefühlt. Ich hab nicht ein einziges Mal mehr das Gefühl gehabt, ich müsste da anrufen, da hingehen, irgendwas. Ich hab kein schlechtes Gewissen gehabt, ich war frei. Das Einzige wäre wirklich gewesen, es kommt ein Anruf von ihr. Das ist nicht gekommen.
Meine Mutter war herzkrank, sehr viele Jahre. Und sie hat sehr viele Medikamente nehmen müssen. In Kombination immer mit Alkoholmissbrauch. Der Punkt war, dass eigentlich die Organe alle am Ende waren. Das war der Punkt, warum sie dann da im Krankenhaus war und da dann geblieben und gestorben ist.
Ich habe sie erst wiedergesehen, als sie tot gewesen ist.
Es war dieser Abschied im Krankenhaus, es hat gut getan. Es war ein Ende, ein Ende von einem ewigen Selbstzerstörungskreislauf. Und das fühlte sich einfach richtig an.
Die Beerdigung
Ich hab lange über die Beerdigung meiner Mutter nachgedacht. Also, immer gesagt, wenn die stirbt, was willst du dann und wie willst du das halt haben.
Ich wollte eine Trauerfeier für meine Mutter haben, wo nicht gesagt wird, was für eine supertolle und liebevolle und aufopfernde Mutter sie gewesen ist. Weil sie das in dem Sinne nicht unbedingt gewesen ist. Ich wollte aber auch nicht hingehen und sie ankreiden oder anschuldigen, was sie alles nicht gemacht hat. Ich wollte es aber so ehrlich wie möglich haben. Im Grunde ist der Anstoß zu der Versöhnung durch diese Trauerfeier gekommen, durch diesen Tanz gekommen.
"Er hat meine Gefühle getanzt, ich konnte das aber auf Abstand sehen."
Die Sehnsucht nach Zärtlichkeit
Als ich den Herrn Grützner das erste Mal hab tanzen sehen, das war bestimmt schon ein Jahr vorher. Da hab ich gesagt: Wenn deine Mutter stirbt, willst du das haben. Das war mir schon lange klar. Er ist letztendlich ein Balletttänzer, der in seinem Balletttanz etwas ausdrückt, was du empfindest, für was du vielleicht auch keine Worte hast.
Ich konnte ihm genau sagen, was ich eigentlich wollte, was für mich so wichtig war, worum ich ihn bitte, es auszudrücken in diesem Tanz. Da hab ich ihm gesagt, diese Sehnsucht nach dieser Zärtlichkeit. Weil das war immer noch das, was offen stand für mich halt.
Ja, es war so. Er kam ja so von hinten, ich hab ja natürlich in der ersten Reihe gesessen, dann mit dem Rücken halt eben dazu. Und er kam halt von hinten nach vorne dann so rein und hat dann vorne auch noch mal getanzt. Aber er kam eben schon tanzend rein. Aber es war immer diese wiegende Bewegung, dieses Kindwiegen. Ich hab immer mich gesehen, in diesen Armen meiner Mutter halt.
Er hat meine Gefühle getanzt, ich konnte das aber auf Abstand sehen. Er hat das ausgedrückt. Und darüber konnte ich das allererste Mal überhaupt einen gewissen Abstand finden zu meiner Mutter.
Es war am Anfang eine große Wut da, auf das, was ich nicht bekommen habe, was sie mir vorenthalten hat. Und ich kam von dieser Wut nicht weg.
"Ich hab immer mich gesehen, in diesen Armen meiner Mutter halt."
Es heißt immer, wenn in einer riesigen Betonmauer nur ein kleines Pflänzchen, es muss nur ein winziges, kleines Risslein sein, dann geht das ja auf.
Und das war der Tanz.
Da ist ein Riss in diese Wutmauer reingekommen.