SpätzünderWenn wir uns was Neues trauen
Manchmal erkennen wir erst als Erwachsene, was uns wirklich Spaß macht. Isabell und Pia erzählen, wie sie in ihren Zwanzigern neue Hobbys fanden. Was in unserem Gehirn passiert, wenn wir Neues lernen, erklärt Psychologe Roscoe Araujo.
Lange traute sie sich nicht, jemandem davon zu erzählen. Also sang die 20-Jährige draußen auf dem Feld, wo sie niemand hören konnte, und später in der Wohnung, wenn niemand zu Hause war. Schließlich erzählte sie den Menschen in ihrem Leben: Ich will singen. Und es passierte das, was sie befürchtet hatte: Sie wurde für verrückt erklärt.
Vergleiche und zu hohe Ansprüche verhindern, dass Menschen Neues ausprobieren
Doch Isabell machte weiter. Sie nahm Gesangsunterricht und fand schließlich eine Band. Heute ist sie Sängerin der Rock-Pop-Band Liminal Space. Bekannt ist die Band nicht, doch darum geht es Isabell auch nicht. Singen ist für sie Erfüllung. Was andere über ihre neue Leidenschaft denken, ist nicht mehr so wichtig.
"Um in der Band genommen zu werden, musste ich vorsingen. Das war das Aufregendste, was ich bis dahin gemacht habe."
Ein weiterer Grund, warum Menschen nicht mit etwas anfangen, obwohl sie Lust darauf haben, ist der Vergleich mit anderen, erklärt der Psychologe Roscoe Araujo. Wenn es danach ginge, hätte Pia ihr neues Hobby direkt an den Nagel hängen müssen: Eiskunstlauf.
Die jüngste Olympiasiegerin ist gerade mal 15 Jahre alt. Und auch Pia sieht in der Eishalle 12- oder 13-Jährige, die Pirouetten drehen und auf dem Eis springen. So weit ist Pia bei Weitem nicht. Sie ist 25 Jahre alt und hat vor einem halben Jahr mit dem Eiskunstlaufen angefangen. Das erste Mal hinzugehen, habe sie durchaus Überwindung gekostet, dann aber habe das Gefühl überwogen, mit Gleichgesinnten und einem Trainer in der Gruppe zu üben.
"Auf der Eisfläche spüre ich ein Freiheitsgefühl. Irgendwann will ich auf dem Eis tanzen, ohne darüber groß nachzudenken und mich einfach nur frei fühlen."
Pia und Isabell haben sich beide etwas getraut. In der Konsequenz bedeutet das, dass sie nicht nur eine neue Fähigkeit angeeignet habe. Sie haben noch etwas gelernt, erklärt Roscoe Araujo, nämlich, dass sie Neues lernen können. So eine Erfahrung präge einen ein Leben lang.
Das Gehirn ist fürs lebenlange Lernen konzipiert
Tatsächlich ist der Mensch ein Leben lang in der Lage, dazuzulernen und Neues zu lernen. Das liegt an der Neuroplastizität des Gehirns. Heißt: Unser Hirn ist bis ins hohe Alter in der Lage, neue Verknüpfungen zu bilden.
Allerdings weist Roscoe Araujo dabei auf eine Einschränkung hin: Man sollte nicht zu hohe Erwartungen oder Ansprüche an sich selbst haben. Wer zum Beispiel im Erwachsenenalter eine neue Sprache lerne, sollte sich nicht mit einem Muttersprachler vergleichen. Das müsse zu Frustration führen.
Denn generell gelte: Je älter man ist, desto schwieriger ist es, etwas Neues zu lernen. Schwieriger bedeute aber nicht unmöglich. Und es komme ja immer darauf an, mit wem man sich vergleiche, so der Psychologe.
"Vergleiche mit Menschen, die besser sind als man selbst, führen nicht selten dazu, dass der eigene Selbstwert infrage gestellt wird. Die Konsequenz: Man hört schnell wieder mit einer Sache auf, die man eigentlich machen wollte."
Daher ist sein Tipp: sich Menschen suchen, die ähnliche Startvoraussetzungen haben, wie man selbst. Das sei auch ein Weg, um Gleichgesinnte zu treffen und sich gegenseitig zu motivieren. Außerdem sollte man sein eigenes Lerntempo anerkennen.
Pia und Isabell haben bisher nicht bereut, über ihren Schatten gesprungen zu sein. Pia ist sportlicher geworden und Isabell traut sich, vor Menschen aufzutreten – etwas, das sie früher nie von sich gedacht hätte. Daher steht für sie fest: "Wenn ich wieder einmal mit etwas anfangen möchte im Leben, dann mache ich das auf jeden Fall.“