Der Fall Claas RelotiusStefan Niggemeier zu Reportageskandal: "Wir sind Dienstleister, nicht Künstler"
Fälschungen statt Fakten: Erst kürzlich hat Spiegel-Reporter Claas Relotius noch den "Deutschen Reporterpreis" gewonnen. Jetzt flog der 33-Jährige auf: Ganze Reportagen waren frei erfunden. Medienjournalist Stefan Niggemeier analysiert den Fall für uns.
"Ich bin fassungslos, wie das passieren konnte" – das Ausmaß des Fälschungsskandals macht auch den Medienjournalisten Stefan Niggemeier ratlos. Am Mittwoch war der Spiegel mit einer Mitteilung an die Öffentlichkeit gegangen: Der neue stellvertretende Chefredakteur Ullrich Fichtner legte mit seinem Artikel einen Betrugsfall offen, der seinesgleichen sucht.
Claas Relotius, ein 33-jährige Reporter, hat zugegeben, über Jahre hinweg dutzende Texte ganz oder teilweise erfunden zu haben. Dieser publizistische Skandal stellt die Glaubwürdigkeit des Spiegels auf eine harte Probe.
Für besonders problematisch hält Stefan Niggemeier, dass Claas Relotius mit seinen Geschichten politisch erwünschte Klischees bedient hat. Zum Beispiel, indem er sich detailliert die Ausländerfeindlichkeit von Trump-Wählern in einer US-Kleinstadt ausmalte. Am Ende seiner letzten Reportage "Jaegers Grenze" lässt er ein vermeintliches Mitglied einer Bürgerwehr im Dunkeln auf mittelamerikanische Migranten schießen. Alles nur ausgedacht – aber die Redaktion hat nichts gemerkt.
"Das sind beliebte Vorurteile der Kollegen und der Leserschaft. Es wäre falsch, das auf die ganze Branche zu übertragen. Aber es ist wichtig zu fragen: Wieso kam er gerade mit solchen Geschichten durch?"
Medien sollen aufklären und selbstkritisch sein
Medienjournalist Stefan Niggemeier spricht von einer gefährlichen Kultur des Geschichten-Erzählens: Die Bereitschaft, die perfekten Geschichten von Claas Relotius zu glauben, war in der Redaktion und bei den Ressortleitern des Spiegel offenbar größer als die journalistische Pflicht zur gesunden Skepsis.
"Bei solchen perfekten Geschichten müsste die Redaktion oder die Ressortleiter fragen: Kann das wirklich sein? Stattdessen haben sie gesagt: Ist das geil! Und wir wollen das glauben, weil es so perfekt ist."
Der Skandal weist auf ein grundsätzlicheres Problem hin, sagt Stefan Niggemeier: den Trend zu "Preisreportagen". Artikel also, die eher an eine Kurzgeschichte als an einen journalistischen Text erinnern. Erzählerisch ausgefeilt, dramaturgisch aufgebaut, um die Leser emotional mitzureißen – mitunter zulasten der inhaltlichen Genauigkeit. Das Genre, das der vielfach ausgezeichnete Claas Relotius so perfekt beherrscht.
"Es ist schön, wenn jemand gut schreibt. Aber da schwingt auch Selbstverliebtheit mit, die am Ende vergessen hat, dass es darum geht, der Wirklichkeit möglichst nahe zu kommen. Wir sind als Journalisten Dienstleister, nicht Künstler."
Umso wichtiger sind für Stefan Niggemeier nun Aufklärung und Selbstkritik. Wieso fielen die Unstimmigkeiten in Relotius' Texten nicht früher auf? Ausgerechnet beim Spiegel, der doch so stolz auf seine Dokumentarabteilung ist, die jeden Text vor der Veröffentlichung akribisch prüft.
Dass Claas Relotius bewusst betrogen hat, steht außer Frage. Stefan Niggemeier wünscht sich aber mehr Selbstkritik von der Redaktion des Spiegel. Die müsse sich fragen, welche Verantwortung sie daran hat, dass Claas Relotius mit seinen Geschichten durchgekommen ist.
Nicht nur der Spiegel ist betroffen
Auch andere Medien, für die Claas Relotius geschrieben hat, haben mittlerweile Texte von ihm überprüft und teilweise offline genommen. Darunter das Süddeutsche Zeitung Magazin, der Tagesspiegel und die Taz. Stefan Niggemeier glaubt, dass durch das Auffliegen von Claas Relotius noch mehr Geschichten über journalistisch unsaubere Artikel öffentlich werden könnten.
"Da werden uns viele schmerzhafte Diskussionen bevorstehen. Ich glaube aber auch, dass das gute Diskussionen sein können: Was läuft da schief und wie können wir das verhindern?"
Dabei wirbt er auch um Verständnis für journalistische Arbeit: "Es ist wahnsinnig schwierig, der Wahrheit nahe zu kommen. Journalismus ist immer nur eine grobe Annäherung. Jeder bewusste Schritt davon noch weiter weg ist unzulässig."
Relotius hat seinen Vertrag beim Spiegel inzwischen gekündigt und mehrere Journalistenpreise, die er für manipulierte Texte bekommen hatte, zurückgegeben. Verklagt wird er für den Betrug vorerst aber wohl nicht, vermutet der Strafrechtler Udo Vetter bei "Eine Stunde Was mit Medien".
"Die Meinungsfreiheit im Grundgesetz ist so gestaltet, dass sie auch ein Recht zum Lügen gibt."
Der Spiegel könne Relotius wegen seiner Fälschungen nur schwer verklagen, erklärt Udo Vetter. Es sei schwierig, einen wirtschaftlichen Schaden durch die gefälschten Texte nachzuweisen. Anders ist das mit Personen, die Claas Relotius falsch dargestellt hat. Sie könnten den Autor auf Unterlassung verklagen.
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