SoziologieGrenzgebiete: Tödliches Wasser
Flüsse bilden oft eine Grenze zwischen zwei Staaten, Meere trennen Kontinente. Wer ist verantwortlich für diese Gewässer? Allzu häufig werden sie vernachlässigt: Sie verschmutzen oder werden gar zu Orten der Gewalt. Ein Vortrag der Soziologin Estela Schindel.
Jedes Jahr versuchen Menschen, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Für viele endet die Flucht mit dem Tod. Allein im vergangenen Jahr sind dabei über 3.000 Menschen ertrunken oder sie gelten als vermisst. Die Ägäis sei zu einem "Ökosystem des Todes" geworden, sagt die Soziologin Estela Schindel.
"Türkische Fischer erzählen, dass sich ihr Verhältnis zu ihrer Umwelt verändert hat, seitdem die Leichenfunde von Migrant*innen die Ägäis in ein Ökosystem des Todes verwandelt haben."
Das Mittelmeer ist nur ein Beispiel in der Vorlesung von Estela Schindel. Sie forscht zu Grenzen, Raum, Diktaturen und Gewalt. In ihrem Vortrag geht es um unser Verhältnis zu natürlichen Gewässern, um Flüsse, Seen und Meere in Südamerika und Europa. Grenzen verlaufen oft dort, wo Wasser ist. So wie zum Beispiel die Oder, der Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen.
"Grenzen sind Instanzen, wo der staatliche Schutz endet."
Grenzräume haben die besondere Eigenschaft, dass sich niemand für sie richtig zuständig fühlt, sagt Estela Schindel. Das hat dramatische Folgen auf vielen Ebenen. Beim Umweltschutz etwa, wenn sich niemand um die Wasserqualität bemüht. Ihren Vortrag hat Estela Schindel noch vor dem großen Fischsterben in der Oder im August 2022 gehalten.
"Der tief in der westlichen Vorstellung verankerte Begriff der Natur, verstärkt den Eindruck, es gäbe bei den Todesfällen in diesen Zonen keine handelnde Kraft."
Wir ziehen eine starke Linie zwischen Natur und Kultur, dadurch werde die Natur zu einem unbelebten Hintergrund – und das sei auch ein Grund, warum wir glauben, dass wir keine Verantwortung dafür tragen, was an natürlichen Orten wie Flüssen oder Meeren geschieht, sagt Estela Schindel.
Gewässer: Grenzräume für die sich keiner richtig verantwortlich fühlt
Wer versucht, über das Mittelmeer zu fliehen und dabei ums Leben kommt, wird vom Meer getötet, könnte man meinen, nicht von politischen Entscheidungen. Es ist genau diese Art des Denkens mit der sich Staaten von ihrer Verantwortung entlasten, argumentiert Estela Schindel.
"Seit dem 19. Jahrhundert fordern indigene Bevölkerungen, dass Bäume, Flüsse oder die Natur selbst in der Lage sein sollten, vor dem Gesetz ihre Rechte als juristische Personen geltend zu machen."
Gewässer sind lebenswichtig. Die Lösung dieses Dilemmas sieht die Vortragende daher in einem Umdenken. Initiativen und Vorschläge dazu gibt es, sagt Estela Schindel. Sie orientiert sich an Forderungen, die indigene Bevölkerungen schon seit über einem Jahrhundert vortragen: nämlich die Anerkennung von Bäumen, Flüsse und der Natur als Rechtssubjekten.
Der Vortrag von Estela Schindel hat den Titel "Flüsse der Erinnerung. Wasser, Trauer und Grenzen im Anthropozän." Es ist ihre Antrittsvorlesung an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, die sie dort am 12. Juli 2022 gehalten hat.