Einkaufen, telefonieren, tankenSoziale Ängste: Überfordert vom Alltag
Einkaufen, tanken, telefonieren – für viele von uns Alltag. Roli war lange Zeit mit solchen Dingen überfordert. Natalie fällt telefonieren auch heute noch schwer. Psychologin Anja Riesel erklärt, was soziale Ängste ausmachen.
Knoten im Bauch, Zittern, Schwitzen – viele von uns kennen solche Symptome, wenn sie vor einem Vortrag oder einer Prüfung aufgeregt sind. Bei manchen Menschen treten solche und extremere Symptome, wie etwa eine Panikattacke, in ganz alltäglichen Situationen auf.
Die Angst sich zu blamieren
Roli konnte eine lange Zeit weder auf Partys, einkaufen oder tanken gehen. Er erzählt, dass es vorkommen konnte, dass er das Tanken so lange vor sich herschob, bis es nicht mehr ging – und dann kurz vor der Tankstelle doch wieder umdrehte und mit dem Auto liegen blieb. Zu groß war die Angst, etwas falsch zu machen, gedemütigt zu werden und sich zu blamieren.
"Bei der Schmetterlingsmethode lege ich die Hand auf meine Brust und atme fünf Sekunden lang ein und fünf Sekunden wieder aus."
Auf dem Weg zur Tankstelle setzten bei ihm Herzrasen, Lähmung und Angst ein. Inzwischen hat er Strategien gefunden, um sich zu beruhigen: Entweder ruft er Freunde an oder hält sich an die Schmetterlingsmethode und versucht seinen Atem zu regulieren.
Seine Angst vor sozialen Situationen hat in der Schulzeit begonnen. Ausgelöst durch Mobbing-Erfahrungen hatte Roli nicht nur Angst sich zu blamieren, sondern davor, dass ihm konkret etwas zustoßen könnte.
"Das Schönste für mich ist, wieder Zugfahren zu können. Dieses Jahr bin ich das erste Mal alleine nach Berlin und Köln gefahren."
Seine Freunde konnten die Ängste damals kaum nachvollziehen. Erst auf Social Media fand Roli Menschen, denen es genauso ging. Mit ihnen konnte er sich austauschen, er erzählte von seinen Erfahrungen auf einem eigenen Kanal.
Einen Therapieplatz hat er damals nicht bekommen, doch durch den Austausch mit anderen und seinen Job, bei dem er für andere da sein muss, geht es ihm heute viel besser. Auch durch seine Tätigkeit als Influencer wurde er auf viele Events eingeladen – an denen er teilnehmen wollte. So musste er sich seinen Ängsten stellen. Heute sagt Roli: Es war ein langer Weg.
"Beim Anrufen gibt es so viele Zwischenschritte, bei denen etwas schief laufen kann. Den grünen Button am Ende zu drücken, kostet mich dann nochmal am meisten Überwindung."
Natalie geht es ähnlich. Ihr fällt vor allem Telefonieren schwer. Angerufen werden ist weniger ein Problem, doch wenn sie jemanden anrufen muss, ist sie wie gelähmt. Denn dabei gibt es mehr Schritte, die selbst ausführen muss – und bei denen sie sich potenziell blamieren könnte. Ihre größte Angst ist, dass sie sich verwählt und einer fremden Person erklären muss, warum sie sich verwählt hat.
Die Herausforderung annehmen
Eine Zeit lang hat sie deshalb gar nicht telefoniert. Termine und ähnliches mussten ihre Eltern für sie ausmachen. Als sie dann nach Berlin zog, war sie auf sich gestellt – und sie musste sich dem Telefonieren stellen.
Heute hat sie ihre Strategien: Wenn sie telefonieren muss, macht sie das am liebsten, wenn eine Freundin von ihr dabei ist. Oder sie stellt eine Kamera auf, um sich selbst zu sehen und sich nicht so allein zu fühlen.
"Wenn ich bestimmte Situationen immer vermeide, festigt sich die Vorstellung, dass ich nicht in der Lage bin sie zu meistern."
Anja Riesel ist Professorin für Psychologie an der Uni Hamburg und leitet dort die Hochschulambulanz mit Schwerpunkt Angst- und Zwangsstörungen. Sie sagt: Wann eine soziale Angst vorliegt, ist ganz individuell. Leidet aber die betroffene Person darunter oder fühlt sich in ihrem Alltag, der Familienplanung, der Partnersuche oder der Berufswahl dadurch eingeschränkt, ist eine Behandlung ratsam.
Soziale Ängste können verschiedene Ursachen haben. Oft spielen folgende Faktoren eine Rolle:
- Eine genetische Prädisposition in der Familie. Anja Riesel erklärt, dass gerade in Familien sich die Symptomatik oft häuft.
- Erziehungsfaktoren. Neben genetischen Ursachen kann die Familie auch eine Rolle spielen, indem wir dort bestimmte Verhaltensmuster abschauen oder entwickeln.
- Umweltfaktoren. Genauso können Traumata und schlechte Erfahrungen in sozialen Kontexten, vor allem in Kindes- und Jugendalter und in der Schule, soziale Ängste hervorrufen.
Je mehr negative Erfahrungen wir dann machen, desto stärker werden die Ängste. Deshalb sei es wichtig, diesen negativen Erfahrungen positive entgegen zu setzen – und die angstauslösenden Situationen gerade nicht zu vermeiden.
"Wir raten den Betroffenen, sich gezielt in die Situationen zu begeben und ihre Befürchtungen zu überprüfen: Habe ich mich wirklich blamiert?"
In der Therapie ermittelt sie zusammen mit den Betroffenen, welche Faktoren die Angst aufrecht erhalten. Oft ist es die Vermeidung. Deshalb sollten Betroffene versuchen, die Situationen aufzusuchen und im Nachhinein prüfen, ob sich ihre Befürchtungen bewahrheitet haben. So können neue Lernerfahrungen gesammelt werden.
Wann Anja Riesel dazu rät, sich Hilfe zu suchen und was Roli und Natalie Betroffenen raten, hört ihr in der Ab 21.