Social MediaSinn und Unsinn von Kommentaren in sozialen Medien
Soziale Medien gelten als das Meinungsschlachtfeld unserer Zeit. Aber nur die wenigsten äußern zu öffentlichen Posts ihre Meinung. Was die Kommentarfunktion überhaupt bringt, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.
Die meisten Nutzer*innen sozialer Medien würden wohl von sich behaupten, dass sie gerne auf dem Laufenden sind. Und wo würden sie die aktuellen Themen, Trends und Entwicklungen wohl besser erfahren als bei Insta, Tiktok und Co.? Wenn es aber darum geht, an Diskussionen teilzunehmen, sagt ein ganz großer Teil der User*innen: ohne mich. Scheinbar lesen zwar viele Personen die Kommentare, schreiben will sie aber niemand.
Bieten die Kommentarspalten also überhaupt ein repräsentatives Bild davon, was Leute zu einem bestimmten Thema denken?
Die 90-9-1-Regel
Social-Media-Manager*innen beschreiben das Phänomen mit der sogenannten 90-9-1-Regel. Sie besagt: Wenn 100 User*innen einen Post sehen, dann unternehmen 90 von ihnen gar nichts. Sie hinterlassen also weder einen Kommentar noch eine einfache Handlung wie ein "Like". Neun von 100 liken immerhin. Aber nur eine einzige Person, also ein Prozent, unternimmt eine weiterführende Handlung wie einen Kommentar.
Ein wirklich repräsentatives Bild ergeben die Kommentare also nicht. Laut Online-Marketing-Experte Hendrik Unger hat das verschiedene Gründe:
- Den meisten Leute fehlt im Arbeits- oder Familienalltag schlicht und ergreifend die Zeit zum Kommentieren.
- Die meisten Leute behalten ihre Meinung lieber für sich.
"Die Menschen, die Zeit haben, müssen trotzdem sagen: 'Ich möchte meine Meinung öffentlich teilen und es ist für mich ok, dass das alle sehen.' Und das wollen viele nicht."
Nicht zu Unrecht überlegen sich die meisten Menschen zweimal, ob sie ihre Meinung zu einem Post äußern.
Ein Trikot erregt die Massen – wirklich?
Am Beispiel des neuen Auswärtstrikots der deutschen Fußballnationalmannschaft lässt sich gut erkennen, wie ein Thema, bei dem es scheinbar nur um Geschmack geht, ins Politische kippen kann. Von Kommentaren wie "Was habt Ihr Euch dabei gedacht?" über "Go woke, go broke" bis zu "Germany away, das ist gay!" reicht hier die öffentliche Empörung.
Das Trikot ist ein totaler Reinfall, könnte man jetzt denken. Stimmt aber gar nicht, denn die Stimmung an den Ladentheken sieht ganz anders aus: Das deutsche Auswärtstrikot verkauft sich wie warme Semmeln.
Erkenntnis: Die Mehrheit der Leute, die online kommentieren, empfindet Frust bei dem Trikot. Die Mehrheit derjenigen, die nicht kommentieren, ist aber offenbar Fan – und das sind insgesamt viel mehr Menschen.
Kommentarspalten vs. Realität: Die schweigende Mehrheit
Neben denen, die in den Kommentarspalten ihren Frust ablassen und jenen, die sich nicht öffentlich äußern wollen, gibt es noch eine weitere Gruppe: die Social-Media-Nutzer*innen, die den Trolls und Hatespeech-Verbreiter*innen nicht kampflos das Netz überlassen wollen.
Teresa Sündermann arbeitet für die Amadeu-Antonio-Stiftung und berät NGOs, Initiativen und Vereine im Social-Media-Management. Wenn sie in einem Kanal zum Beispiel beleidigende oder fremdenfeindliche Äußerungen findet – egal ob in den Posts selbst oder in den Kommentaren – wünscht sie sich oft, dass sich auch mal die bekannte "schweigende Mehrheit" beteiligen würde.
"Wenn da nur stehen würde: 'Klingt für mich rassistisch – sieht das noch jemand so?' Dann könnte sich eine Person angesprochen fühlen."
Eine einfache Kommentierung kann sehr viel ausmachen, sagt Teresa Sündermann. "Sich mit potenziell Betroffenen zu solidarisieren und sich in Kommentarspalten an ihre Seite zu stellen, das ist wahnsinnig wichtig."
Wobei natürlich klar ist: Auch diese Meinung kann dann wieder kommentiert werden.