TagebuchSchreiben als Selbsttherapie in der Krise
Schreiben als Therapie: Wer seine Gefühle aufs Papier bringt, kann die eigenen Emotionen besser steuern und Erlebnisse verarbeiten. Davon sind Psychologen schon lange überzeugt. Gerade in Zeiten, in denen das ganze Land im Pandemie-Ausnahmezustand ist, kann uns das helfen.
"Ich habe mir nie vorgenommen, zu schreiben. Ich habe damit angefangen, als ich mir nicht anders zu helfen wusste", schreibt Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller. Das zeigt: Schreiben ist Therapie. Schreiben hilft uns, Ereignisse und Gefühle zu verarbeiten.
Davon ist auch Andrea Horn überzeugt. Sie ist Psychologin und forscht zum Thema "Schreiben und Gesundheit" an der Universität Zürich. Vor allem in den letzten Jahren hat sich "Expressives Schreiben" als Therapieform etabliert. Dabei schreiben Menschen über einschneidende Lebensveränderungen, um diese zu verarbeiten.
"Ich habe mir nie vorgenommen, zu schreiben. Ich habe damit angefangen, als ich mir nicht anders zu helfen wusste."
Selbstverfasste Texte als Heilmethode – das funktioniert? Ja, sagt Andrea Horn. Dutzende Studien haben deren Effekt bekräftigt, etwa bei Menschen mit Depressionen und Posttraumatischen Belastungsstörungen, aber auch für Rheumakranke und Herzinfarkt-Patienten.
Warum also nicht auch als eine Art Selbsttherapie-Form nutzen während der Corona-Pandemie?
Schreiben ist heilsam
Die Pandemie, der fast zweimonatige Shutdown, die Kontaktsperre, das macht etwas mit uns: Es verändert unser Leben, unsere Gefühle, unsere Wahrnehmung. Es geht nicht spurlos an uns vorbei. Denn für die meisten ist der momentane Ausnahmezustand etwas, was sie so noch nie erlebt haben.
Durch das Schreiben können wir unsere Gedanken sortieren, erklärt Andrea Horn. Durch die Struktur geben wir den Gedanken einen Sinn und das sei vor allem in Krisensituationen heilsam.
"In Krisenzeiten gibt es ein Bedürfnis die Gedanken zu ordnen. In diesem Erleben von mangelnder Kontrolle, kann es helfen, irgendwas zum Papier oder zum Bildschirm zu bringen."
Ein Tagebuch ist in der Regel etwas Persönliches und Intimes: Niemand außer einem selbst soll lesen, was da geschrieben steht. Das anonyme Schreiben schafft einen Ort ohne soziale Bewertung, sagt Andrea Horn. Wir müssen keine Angst davor haben, dass uns jemand für das geschriebene Wort verurteilt – denn niemand wird es lesen.
Kollektives Schreiben
In Krisen kann sich die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre verschieben. Diese Erfahrung hat auch Berit Glanz gemacht. Sie ist Autorin und schreibt seit Beginn der Pandemie Tagebuch – nicht alleine für sich, sondern im Kollektiv. Insgesamt 29 Autorinnen und Autoren arbeiten an dem Kollektiv-Tagebuch "Soziale Distanz." In mittlerweile neun Wochen sind rund 150 Seiten entstanden – voll mit sehr persönlichen Gedanken und Gefühlen, die mit der Öffentlichkeit geteilt werden.
"Das ist eine Schnittstelle zwischen Öffentlichkeit und Privatheit: Was gibt man von sich preis? Was behält man in einer krisenhaften Situation doch für sich?"
Es ist ein Versuch über die Krise zu schreiben und festzuhalten, wie sich "unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst" mit der Zeit verändern, schreiben die Autoren und Autorinnen im Intro des Online-Tagebuchs.
Denn momentan erleben alle die gleiche Situation, sagt Berit Glanz im Ab21-Podcast. Der Alltag hat sich durch die Pandemie verändert. Jeder muss sein Leben neu ordnen, einer neuen Struktur, einen Sinn geben. Vor allem in solchen Zeiten hat der Mensch ein verstärktes Bedürfnis sich anderen mitzuteilen, sagt Psychologin Andrea Horn. Die Menschen sehnen sich nach dem Gefühl, in der Isolation nicht alleine zu sein.
"Eine Bewältigungsart in uns Menschen ist das Mitteilen, von dem, was uns bewegt. Das Erzählen davon und sich dabei nicht alleine und verstanden fühlen, das ist ein ganz wichtiges Bedürfnis."
Für Berit haben sich durch das Tagebuch-Projekt neue Perspektiven aufgetan, sagt sie. In der Vielfalt der beteiligten Personen liege die Stärke. Jeder habe eine andere Herangehensweise: Manche schreiben viel, manche wenig. Manche sind immer präsent, andere tauchen für Wochen immer wieder ab. Oft fiebert sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen mit, erzählt sie. Mit Spannung erwartet sie dann, wie die Geschichte weitergeht.
"Man erlebt, wie es anderen Menschen geht. Man reagiert darauf. Das bedeutet mir momentan sehr viel. Ich finde das sehr bestärkend und inspirierend."