SchweigenWenn wir uns im Alltag mehr Ruhe wünschen
Obwohl Anna schon lange meditiert, kam für sie ein Schweige-Retreat nie infrage. Nun hat sie es doch gewagt. Warum tagelanges Schweigen nicht für jede und jeden das Richtige ist, regelmäßige Auszeiten aber der Psyche gut tun, erklärt Stressmediziner Jan Kalbitzer.
Richtig still ist es in unserem Alltag eigentlich nie. Gefühlt quatscht uns immer jemand voll, auf der Straße rauscht der Verkehr vorbei und wenn wir nicht ohnehin Podcasts oder Musik auf dem Handy hören, klingelt oder vibriert es vor sich hin.
Wird es still, werden Gedanken laut
Anna wollte von all dem weg und machte einen radikalen Cut: Sie entschied sich, ein zehntägiges Schweige-Retreat zu versuchen. Zwei Mal täglich gab es dort Vorträge oder Yoga, ansonsten war der Tag von morgens bis abends geprägt von Stille, Schweigen und Meditation. Kein Handy, keine Bücher, nicht einmal der Augenkontakt zu anderen Teilnehmer*innen war erlaubt.
"Wir sind in so einem Trubel, dass wir manchmal vergessen, uns selbst zuzuhören."
Statt innerer Ruhe gab es aber erst Mal das Gegenteil: Anna bekam zuerst und vor allem das, was sie ein "Monkey Mind" nennt - nicht enden wollende Gedankenstrudel. Dazu hatte sie auch noch Rückenschmerzen vom vielen Sitzen. Teil der Herausforderung, der sie sich stellte, war es, diesen unangenehmen Erfahrungen nicht auszuweichen oder den Aufenthalt abzubrechen, sondern zu lernen, damit zu sein.
Die zehn Tage waren für Anna intensiv und zuweilen hart. Für sie war das eine "unglaublich wichtige Erfahrung", um sich mit ihr selbst und ihren Emotionen auseinanderzusetzen.
"Irgendwann habe ich die Leere hinter den Gedanken wahrgenommen und gemerkt, dass sich dahinter eine tiefe innere Ruhe befindet."
Jan Kalbitzer, Leiter der Stressmedizin in den Oberberg Kliniken und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut, findet, dass ein Aufenthalt in einem Schweige-Retreat oder in einem Kloster, wie Anna es getan hat, eine spannende spirituelle Erfahrung sein kann. Allerdings ist er nicht überzeugt davon, dass es eine Lösung für die Überforderung durch Reize und Konflikte darstellt, unter der viele Menschen leiden.
"Stille ist etwas, das wir uns immer wieder wünschen. Aber den meisten Menschen ist es schnell zu viel, wenn es plötzlich still wird."
Der Facharzt empfiehlt Menschen, die sich nach Stille sehnen, sich im Alltag immer wieder Ruheinseln zu schaffen. Außerdem sei es sinnvoll, sich Zeit für die eigenen Gefühle zu nehmen. "Das kann erst mal unangenehm sein, weil wir im Stress vor unangenehmen Gefühlen wegrennen, sie nicht spüren wollen", sagt er. Seien wir erst einmal in der Stille und Ruhe angekommen, überwältigten sie uns plötzlich.
"Ein Anfang ist, das Smartphone nicht auf den Spaziergang mitzunehmen oder auch mal ohne Handy aufs Klo zu gehen."
Oft glauben wir, gibt Jan Kalbitzer zu bedenken, dass wir Ruhe und Stille wollen – eigentlich stecke aber etwas anderes dahinter. Das merken wir, wenn wir mit Menschen zusammen sind, bei denen wir uns nicht verstellen oder ein Gespräch am Laufen halten müssen.
Geborgenheit: Vertraute Menschen als Ort der Ruhe
Mit diesen ganz besonderen Menschen können wir schweigen, von ihnen fühlen wir uns anerkannt, mit ihnen können wir sein. Und das sind Momente, sagt der Psychotherapeut, in denen oft diese Ruhe eintritt, nach der wir uns sehnen.
Anna hat nach ihren intensiven zehn Tagen eine ähnliche Erfahrung gemacht. Die extremste Erfahrung sei nicht diejenige gewesen, endlich wieder mit einer anderen Person sprechen zu dürfen. Viel krasser sei es gewesen, einer Freundin wieder in die Augen zu schauen und dadurch die Nähe und Verbundenheit zu spüren.