Lydia Herms hat Schulden"7500 Euro, minus. Das war das Limit"
Angefangen hat es mit dem Umzug von Halle nach Berlin. Lydia zahlt 1000 Euro für ein Umzugsunternehmen. Ein Jahr später fährt sie mit Freunden nach Island. Sie kann sich den Urlaub nicht leisten, fährt aber trotzdem mit. Eine Kreditkarte macht es möglich. Nach dem Urlaub ist sie 2200 Euro im Minus. Vier Jahre und ein paar Tausend Euro später kann Lydia endlich über ihre Schulden reden.
Es ist so einfach. Und gleichzeitig so irre schwer.
Ich stehe vor einem Laden mitten in Berlin-Friedrichshain, um mich herum eintausend Leute, alle unterwegs irgendwohin, Paare lösen ihre Hände, um mich zu umrunden, wie in so ’nem Musikvideo, mit Zeitraffer. Alles fließt, nur ich stehe still. Ich starre auf den Eingang des Ladens – und muss mich entscheiden.
Ich weiß, dass es in dem Geschäft etwas gibt, das ich unbedingt brauche. Einen Toaster, weil der alte blaue Blitze versprüht. Einen Overall aus Jeans, weil ich so etwas schon immer mal haben wollte. Die neue Platte von Greg Haines, weil ich ohne dessen Musik keinen Tag länger leben kann. Ohrstecker. Kekse. Tee.
Sucht euch was aus. Ich hatte unzählige dieser Momente. Jahrelang.
Das Problem ist: Ich habe kein Geld.
Und dann gehe ich trotzdem rein. In den Laden. Ich suche, ich gucke, ich fühle – und ich kaufe mir was. Für 10 Euro, 15 Euro, 130 Euro. Ich habe kein Gefühl für Summen. Einhundert Euro mehr oder weniger machen es nicht schlimmer. Weil es schon schlimm ist.
Denn genau genommen habe ich sogar noch weniger als kein Geld.
Ich habe minus Geld.
"Seitdem war ich nie wieder im Plus. Und selbst wenn ich mich der Nullgrenze mal genähert habe, dann nur für kurze Zeit."
Seitdem war ich nie wieder im Plus. Und selbst wenn ich mich der Nullgrenze mal genähert habe, dann nur für kurze Zeit. Sofort kam wieder alles auf einmal: Vorauszahlung irgendwelcher fiesen Steuern, Nachzahlung irgendwelcher fiesen Gebühren, Waschmaschine kaputt, Katze krank, und obendrauf meine Gedankenlosigkeit beim Kauf von Zugtickets, Klamotten, Büchern, Geschenken.
"Damals dachte ich nämlich: 'Nett von euch, aber: Brauche ich nie.' Heute weiß ich: Die Großzügigkeit meiner Bank ist ein Teil des Problems."
Bis ich im Juni 2017 kein Bargeld mehr von meinem Konto abheben kann. Weil Schluss ist. So richtig Schluss. Wir sprechen hier von einem Kontostand von 7500 Euro. Minus. Das war das Limit.
Vor zehn Jahren hatte mir die Postbank diesen Dispositionskredit eingeräumt. Und ich hatte keinen Widerspruch eingelegt. Damals dachte ich nämlich: "Nett von euch, aber: Brauche ich nie." Heute weiß ich: Die Großzügigkeit meiner Bank ist ein Teil des Problems.
Der Umzug nach Berlin
Ein ziemlich fetter Berliner Radiosender hat Anfang 2012 angerufen und gesagt: "Lydia, wir wollen dich. Du kriegst eine eigene Literatursendung, also, komm’ zu uns, komm’ nach Berlin." Und ich so: "Wann muss ich wo sein?" Ich arbeite als freie Hörfunkjournalistin, Schwerpunkt Kultur. Es kommt nicht oft vor, dass dich jemand so offensiv holt. Niemand wartet auf dich, schon gar nicht in Berlin. Aber manchmal eben doch. Für mich war das eine Riesenchance. Ich hab’ immer davon geträumt, bei diesem Sender zu arbeiten. Und plötzlich fragt der mich, ob ich will. Ich wollte sowas von!
"Nicht so schlimm", habe ich gedacht, "Ich arbeite ja."
Ich hab’ sofort meine Wohnung in Halle gekündigt und mir eine in Berlin-Wedding gesucht. Ich hatte Glück. Die Wohnung, die ich gefunden habe, war groß und gemessen am aktuellen Berliner Mietspiegel geradezu geschenkt. Ich wohne da immer noch.
Ich wollte damals so wenig Stress wie möglich haben, und ich wollte auch keine Freundinnen meine vielen Bücher und Platten schleppen lassen, also habe ich ein Umzugsunternehmen beauftragt. 1000 Euro hat das gekostet. Heute weiß ich: Hätte ich mal lieber doch meine Freundinnen gefragt.
Als ich dann nämlich noch die Kaution überweisen musste, war es plötzlich richtig knapp auf meinem Konto. Aber ich dachte mir: "Du verdienst bald voll viel Geld, Lydia. Das holst du schon wieder rein." In Halle hatte ich mir die Wohnung mit einer Freundin geteilt, zehn Minuten zu Fuß vom Sender entfernt. In Berlin gingen die Fixkosten nicht mehr durch zwei und zur Arbeit brauchte ich eine Stunde mit der S-Bahn, 3,40 Euro pro Fahrt.
"Nicht so schlimm", habe ich gedacht, "Ich arbeite ja." Und immer wieder: "Das hole ich wieder rein. Ich hab’ ja einen guten Job."
Auf meinem Konto lag damals ein Puffer von vielleicht 300 Euro plus, und ich hätte einfach mal für ein paar Monate den Ball flach halten sollen. Dann hätte ich das hinbekommen damals, 2012. Aber es wurde schlimmer.
"Berlin hat mich wahnsinnig gemacht"
Berlin hat mich wahnsinnig gemacht. An jeder Ecke gibt’s Geschäfte, Cafés und Flohmärkte. Das Geld, für das ich hart in dem neuen Job gearbeitet hatte, habe ich auch genauso hart wieder verprasst. Meistens für Quatsch. Der Puffer blieb also dünn. Andere hätten da schon die Alarmglocken schrillen gehört. Aber ich hatte immer noch diese krude Vorstellung, dass ich das wieder hinkriegen würde. Weil: Ich hab’ echt viel gearbeitet. Es kam also auch immer wieder Geld rein.
Super Verdrängungstaktik, oder? Da hatte ich noch 280 Euro auf dem Konto, plus. Aber die Kontrolle hatte ich längst verloren. Ich redete mir das nur ein. Wie eine Süchtige, die sich denkt: "Morgen! Morgen hör’ ich auf."
"Ein Jahr später, im Sommer 2013 wollten Freunde von mir und ich nach Island fahren. Irre schön. Aber irre teuer."
Ein Jahr später, im Sommer 2013 wollten Freunde von mir und ich nach Island fahren. Das war seit Ewigkeiten abgemacht, einmal um die Insel, mit dem Mietwagen. Irre schön. Aber irre teuer. Das Geld dafür hatte ich nicht mehr. Ich hätte absagen müssen, irgendwie. Aber ich wollte mich nicht vor meinen Freunden outen. Wir hatten die Reise monatelang geplant. Also habe ich mir eine Kreditkarte besorgt.
Damit habe ich dann alles bezahlt: Flug, Übernachtungen, die Leihgebühr für das Auto, Sprit, Verpflegung und einen handgestrickten Wollpullover. An den Geldautomaten in Island habe ich immer gleich Riesensummen abgehoben, für den Fall, dass die Banken meine Karte einziehen oder so. Natürlich hat niemand was mitgekriegt. Am Ende der Reise stand 2200 auf meinem Konto. Mit einem Minus davor.
Heute bin ich immer noch im Minus. Nur tiefer. Manchmal lief es aber eigentlich ganz gut. Ich habe mir Konzertkarten verkniffen, habe Verabredungen zum Brunch ausgeschlagen, habe Bücher nicht gekauft und mir stattdessen gesagt: "Lies erstmal die, die du hast."
"Einmal war ich dann sogar ganz nah dran am Plus"
Und einmal war ich dann sogar ganz nah dran am Plus. Das muss Mitte 2014 gewesen sein. Ich gucke das nicht so gern so genau nach. Da hätte ich es nämlich vielleicht schaffen können, wenn ich aufgewacht wäre. Stattdessen habe ich mich kurz für diesen Erfolg gefeiert. Auch weil ich wusste, was kommen würde: der senkrechte Fall. Dieser Moment war erst toll und dann schrecklich. Ich hatte ja keinen Plan. Ich kannte zwar immer meinen aktuellen Kontostand, wusste aber nie, wie viel Geld ich tatsächlich pro Woche, pro Monat zur Verfügung hatte.
Als Freie kriege ich mein Honorar nicht komplett einmal im Monat, sondern immer mal wieder, je nach dem wie viel ich gemacht habe und wie schnell die Auftraggeber sind. Mal kamen 1500 Euro auf einmal rein, mal 3000 Euro in winzigen Abschlägen, mal kam sechs Wochen lang kein einziger Cent.
Ich hab einfach weiter gemacht: Teure Stiefel gekauft, weil Winter. Und teure Audiotechnik, weil Investition. Ich habe natürlich auch Bücher gekauft, weil ich die ja als Arbeitsmaterial von der Steuer absetzen kann. Klassische Ausreden.
Noch so ein Ding: die Tattoos. Meinen linken Unterarm zieren Kunstwerke im Wert von 900 Euro. Wollte ich haben. Holte ich mir; das erste 2014, das zweite ein Jahr später. Ich hätte das nicht machen sollen, ich eierte damals irgendwo zwischen 3000 und 5000 Euro herum, minus. Es war mir egal.
Ich wollte mir Mut machen. Glaube ich. Ich gönnte mir die Tattoos. Dass ich meine Schulden dafür ignorierte habe, aber trotzdem ständig an meinen Kontostand denken musste, das hat mich fertig gemacht. Voll der Teufelskreis.
"Ich hätte aus dem Teufelkreis aussteigen können"
Die Wahrheit ist: Es gab immer wieder Momente, in denen ich aus dem Teufelskreis hätte aussteigen können. Ende 2014 zum Beispiel. Meine Katze wurde krank.
Ich hatte mich bei minus 3500 Euro eingerichtet. Und ich hab’ mir so eine Mitgliedskarte eines Car-Sharing-Anbieters besorgt, weil ich das Tier mehrmals in der Woche in die Tierklinik fahren musste. Das war teuer. Ich hatte kein Auto und ich hatte auch nicht den Mumm, Freunde um eins zu bitten. Ein bisschen wie damals beim Umzug nach Berlin: Ich wollte das irgendwie alleine hinkriegen. Naja, und ich hätte ihnen sagen müssen, was los ist.
"Ich hab’ ihnen bereitwillig erzählt, wie es um meine Katze steht, aber nicht, wie es mir seit Jahren ging."
Als die Behandlungskosten explodierten, bekam ich 500 Euro von meinen Eltern geschenkt, nicht für mich, sondern für meine Katze. Sie hatten immer Tiere gehabt und wussten, wie teuer das werden kann. Sie wollten mich entlasten. Und ich war ihnen dankbar. Aber ich war auch ziemlich blöd. Ich hab’ ihnen bereitwillig erzählt, wie es um meine Katze steht aber nicht, wie es mir seit Jahren ging. Ich konnte nicht. Ich hab’ mich geschämt. Ich war damals schon 33 Jahre alt, also, voll erwachsen, und ich hatte allen erzählt, dass es super läuft – privat und beim Radio. Und ich wollte das auch selber glauben.
Der neue Job in Berlin
Der neue Job war mein Leben. In der Sendung konnte ich machen, was ich immer wollte: Bücher lesen, Schriftstellerinnen treffen, und im Radio Geschichten erzählen. Ich dachte mir, irgendwann wird sich die ganze Anstrengung bezahlt machen. Nebenbei produzierte ich noch Beiträge für andere Sender, zweites Standbein und so. Ich war fleißig, hab absurderweise richtig viel gearbeitet, und auch gut verdient.
Und trotzdem hatte ich nicht mehr Geld auf dem Konto. Also musste ich noch mehr arbeiten, um noch mehr zu verdienen, wurde dadurch noch frustrierter und kaufte mir deswegen noch mehr Kram, den ich nicht brauchte. Das war nicht gut, aber es funktionierte irgendwie. Alles blieb gleich.
Bis zum Sommer 2015.
Ich wippe in einem Schwingstuhl auf und ab und denke nur: "Scheiße. Scheiße. Scheiße!"
Es ist ein Sommertag, August 2015. Ich sitze in einem schlichten Bossbüro mit Fenster zum Garten, wippe in einem Schwingstuhl auf und ab und denke nur: "Scheiße. Scheiße. Scheiße!"
Der Radiosender, für den ich nach Berlin gekommen war, will mich plötzlich nicht mehr, nach dreieinhalb Jahren. Bis Oktober noch, dann ist Schluss. Ich denke an meinen Vermieter. Ich denke an die Künstlersozialkasse. Ich denke an das Finanzamt. Und ich bin mir sicher: "Jetzt ist wirklich alles vorbei."
Aber: Da war ja noch die Bank, und ihr großzügiger Dispositionskredit, also jede Menge Platz nach unten. Gibt es einen Unterschied zwischen minus 4500 und minus 5500 Euro? Ich hab’ einfach weitergemacht wie vorher.
Über Geld redet man nicht
Über Geld redet man nicht, heißt es. Und ich verstehe jetzt auch warum: Es ist krass schwer. Meinen Freund habe ich kennengelernt, als ich schon richtig tief im Dispo steckte. Genaue Zahlen hat er aber auch erst kurz vor dem ganz großen Knall von mir erfahren. Dazu komm’ ich noch.
Dieses beknackte Nichtreden. Dadurch bin ich überhaupt erst reingeraten: Hätte ich meine Freunde gefragt, ob sie mir beim Umzug helfen, wäre es nicht eng geworden. Hätte ich offen gesagt, dass ich mir die Reise nach Island nicht leisten kann, wäre ich nicht noch tiefer ins Minus geraten.
Im Nachhinein glaube ich, dass alle, die mir nahe stehen, etwas geahnt haben, dass sie aber darauf gewartet haben, dass von mir was kommt. Eine Ansage oder eine Bitte. Ich muss sie mal fragen. Später.
Nach der Kündigung hab ich mich natürlich gedreht wie verrückt. Hab’ neue Auftraggeber gesucht - und auch gefunden. Ich war wieder fleißig, hab’ viel gearbeitet. Und dann das alte Spiel. Der Teufelskreis. Ich wusste, was irgendwann passieren würde - bei genau minus 7500.
Und ich machte etwas, das ich bis heute nicht ganz verstehe. Ich sah mir von außen zu. Ich sah mich fallen, ohne irgendetwas zu unternehmen. Als ob ich den Knall herbei gesehnt hätte.
"7430 Euro und ein paar Cent. Minus."
An den Geldautomaten meiner Bank kann man auch den Kontostand abrufen. Das habe ich immer gemacht, bevor ich Geld abgehoben habe. Auch am zweiten Juni dieses Jahres mache ich das, ein Freitag. Fünf Jahre nachdem ich ins Minus geraten bin. Ich weiß schon vorher, dass ich nichts abheben kann. Ich gehe trotzdem hin, kurz nach 12, weil mittags um 12 immer nochmal was gebucht wird, vielleicht auch ein ausstehendes Honorar auf mein Konto oder zwei. Besser wären drei.
"Zum ersten Mal seit fünf Jahren habe ich das Gefühl, ohne Scham darüber sprechen zu können, dass ich überhaupt nicht mit Geld umgehen kann, noch nie konnte."
7430 Euro und ein paar Cent. Minus. Dieses Minuszeichen ist so winzig und macht die Zahl so unfassbar groß. Und ich weiß plötzlich, dass ich nun auch meinen engsten Verbündeten verloren habe, die Bank und ihren Dispo - meine letzte Rettung. Jetzt musste ich zum ersten Mal den Mund aufmachen – und meinen Freund und meinen Bruder bitten, mir etwas zu leihen. Und das war das Beste, was mir passieren konnte. Ich war am Boden, aber endlich in der Lage, mir professionelle Hilfe zu suchen.
Endlich über Geld reden können
Halb 10, vormittags. Ich sitze in einem schlichten Büro an einem runden Tisch, vor mir meine Kontoauszüge der vergangenen Monate, neben mir eine aufgeräumte Person mit grauen Locken und offenem Blick. Frau Leopold. Sie arbeitet für eine der anerkannten Schuldnerberatungsstellen in Berlin. Bis zum ersten Termin musste ich ein bisschen warten. Die Beratung ist gefragt, dafür aber kostenlos.
Frau Leopold hört mir aufmerksam zu. Mit kräftigem Kulistrich macht sie sich Notizen, während ich ihr von mir erzähle. Ich heule natürlich. Aber von Frau Leopold kommt kein skeptischer Blick, kein Schnalzen, kein Seufzen, überhaupt: kein Anzeichen von Verwunderung oder Missbilligung. Zum ersten Mal seit fünf Jahren habe ich das Gefühl, ohne Scham darüber sprechen zu können, dass ich überhaupt nicht mit Geld umgehen kann, noch nie konnte.
"Ich muss mir auch selber eingestehen können, dass ich Schulden habe."
Das Gefühl, das ich dort in diesem Büro habe, kann ich im Nachhinein kaum beschreiben. Ich war so erschöpft von den Schulden und von meinem Schweigen, und gleichzeitig erleichtert, dass ich endlich drüber reden konnte - mit Frau Leopold. Das beste, sie kann nachvollziehen, wie es mir geht: "Ich muss mir auch selber eingestehen können, dass ich Schulden habe", sagt sie. "Die Notbremse kann man erst dann ziehen, wenn man weiß und ehrlich zu sich selber ist, okay, das schaffe ich jetzt ja doch nicht. Da habe ich mir etwas vorgemacht, das reicht nicht, dass der nächste Auftrag da noch reinkommt. Das ist immer diese Hoffnung. Das versuchen alle!" Und Frau Leopold sagt auch: "Das ist ein schwieriger Gang, dann auch in eine Beratungsstelle zu gehen und das zuzugeben, vor sich selber auch zuzugeben."
"Habe ich wirklich für 250 Euro in der Woche gegessen?"
Dreimal war ich schon bei Frau Leopold - in insgesamt fünf Monaten. Vor unserem ersten Treffen habe ich das Geld ohne ernsthaft darüber nachzudenken aus dem Fenster geworfen. Gleichzeitig hatte ich Angst, dass die Schulden mich erdrücken. Es war ein ständiges Auf und Ab, ich schwankte zwischen Kaufrausch und Angstraum. Heute fühle ich mich sicherer, denn ich führe streng Haushaltsbuch. Das heißt: In meinem Kalender klebt pro Woche ein Blatt, auf das ich alle Ausgaben notiere: U-Bahntickets, Eiskugeln, Deoroller, Klopapier, Klamotten, Bücher, Musik. Sonntagabend rechne ich das in einzelnen Gruppen zusammen, und dann stehen da am Ende reelle Zahlen.
"Vier bis sechs Wochen braucht es mindestens, um sein Konsumverhalten zu ändern."
Diese reellen Zahlen waren trotzdem neu für mich. Sie waren hoch. Habe ich wirklich für 250 Euro gegessen, in nur einer Woche? Anscheinend ja. Manche Summen konnte ich nicht glauben, also, dass ich sie ausgegeben haben soll, noch dazu für Dinge, die ich nicht brauchte.
Vier bis sechs Wochen braucht es mindestens, um sein Konsumverhalten zu ändern, sagt Frau Leopold. Eher mehr. Ich hatte schon nach dem ersten Beratungstermin das Gefühl, ich hab’s raus, voll euphorisch war ich, platzte vor Stolz über meine Disziplin. Aber nochmal zwei Wochen später hab ich es schon wieder schleifen lassen. Statt mit Bargeld, habe ich wieder mit der EC-Karte bezahlt. Und die Haushaltslisten habe ich auch nicht mehr richtig ausgefüllt. Am Schlimmsten fand ich aber, dass ich mir eine Hose und ein Hemd gekauft habe. Beides brauchte ich nicht. Und ich hatte eine meiner ganz persönlichen, neuen Regeln gebrochen, nämlich die, Klamotten nur noch second hand zu kaufen.
Frau Leopold kennt das. "Das ist der normale Rückfallprozess", sagt sie, "klar, man hat kurzfristig ein Erfolgsgefühl, ist ja auch klasse, soll ja auch so sein, damit sieht man ja auch, also, von der Motivation her, dass man selber tatsächlich auch was verändern kann, darum geht es ja auch, ja? Man kann auch nicht von heute auf morgen aufhören mit dem Rauchen, das dauert alles, und Konsumverhalten genauso, oder andere Verhaltensweisen, das muss man ja trainieren. Von daher sind ja zwei Monate für mich gar nichts."
"Die Kreditkarte habe ich eingemottet"
Mittlerweile bin ich wieder dran, schreibe alles auf, halte mich an meine neuen Konsumregeln: Jeden Montag hebe ich 120 Euro ab, das muss für die Woche reichen. 120 Euro sind realistisch. Für Lebensmittel gebe ich inzwischen - im Schnitt - 70 Euro pro Woche aus. Für Klopapier und sowas 10 Euro pro Woche. Bücher und Magazine kosten mich immer noch 13 Euro und Kleidung 7 Euro, im Schnitt, pro Woche. Der nächste Schritt ist, die EC-Karte zuhause zu lassen. Meine Kreditkarte habe ich schon komplett eingemottet.
Frau Leopold empfiehlt, dass ich nur noch mit Bargeld zahle, damit ich nicht die Kontrolle verliere. Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich mich auf meine EC-Karte verlasse, für den Notfall. Wenn ich unbedingt was haben will, aber mein Bargeld schon aufgebraucht ist. Das alte Muster. Deswegen will ich sie gar nicht dabei haben.
Mittlerweile spreche ich über meine Situation, ganz offensiv, mit Freundinnen, mit Arbeitskolleginnen - manchmal sogar mit Kassiererinnen. Wenn ich mich verrechnet habe oder so. Früher hätte ich das nicht gekonnt.
"Meine Schulden sind mir nicht mehr egal"
Vielleicht bin ich im Sommer 2018 schuldenfrei, vielleicht erst in zwei Jahren. Keine Ahnung. Von meinen Einnahmen hängt ab, was ich ausgeben kann. Und natürlich von meiner Disziplin. Das fängt schon damit an, dass ich lernen muss, zu wissen, wie viel Geld genau ich noch in der Geldbörse habe. Und wie viele Tage ich davon noch leben muss. Also, was noch ansteht. Manchmal tue ich so, als ob ich kein eigenes Konto hätte, das klingt radikal, hilft mir aber.
Mein Dispo liegt nach fünf Monaten Sparprogramm bei aktuell minus 4900 Euro, nach Steuerabzug. Meine Waschmaschine läuft noch, und Weihnachten ist zum Glück nicht gleich übermorgen. Vor den fünf Monaten waren es minus 7500 Euro. Das ist ein offensichtlich großer Sprung, aber das geht jetzt nicht so weiter. Ich habe quasi erst einmal alle Ausgaben gestrichen - und fange jetzt an, wieder Geld auszugeben, nur eben kontrolliert.
Jetzt wird tröpfchenweise gespart. Das kann dauern. Inzwischen habe ich ein paar Menschen hinter mir stehen, die sofort bei Miete und Krankenkassenbeitrag einspringen würden, sollte es eng werden - aber nur dann und auch nur dafür. So stolz bin ich dann doch noch.
"Wer behauptet, Schulden seien nicht so schlimm, der macht sich was vor."
Fakt ist: Mein Dispo war keine Rettung, sondern ein Missstand, gegen den ich endlich etwas unternehme. Allein von den Zinsen hätte ich schon ein paar Mieten zahlen können. Irgendwann will ich ihn runterstufen, Stück für Stück, bis auf Null.
Klar, mache ich mir Vorwürfe. Wo stünde ich, hätte ich das und das und das nicht gekauft? Dass ich nicht drüber gesprochen habe, das bereue ich aber viel mehr. Und dass ich meine Situation harmloser dargestellt habe. Wer behauptet, Schulden seien nicht so schlimm, der macht sich was vor. Schulden sind immer schlimm, und besonders schlimm, wenn sie egal geworden sind.
Mir sind meine nicht mehr egal.
Obwohl Lydia Herms sich fest vorgenommen hat, nie wieder mit EC-Karte zu bezahlen, musste sie das neulich tun: Sie war in Köln, um den Radiobeitrag für diesen Beitrag zu produzieren. Ihr U-Bahnticket konnte sie nur passend abgezählt in Münzen oder mit EC-Karte zahlen. Weil sie keine Münzen hatte, musste sie die Karte rausholen.