Ratte im GullySo viel ist ein Tierleben wert
Eine ziemlich fette Wanderratte steckt im hessischen Bensheim in einem Gully fest. Der Kopf guckt oben raus, aber das Hinterteil passt nicht durch das Gullyloch. Sieben Feuerwehrleute sind angerückt, um die Ratte zu befreien. Im Netz wird so viel Einsatz für ein Lebewesen gefeiert. Eine Ratte, die wir ansonsten mit Gift und Fallen bekämpfen.
Auf dem Foto sieht sie ja eigentlich auch ganz niedlich aus – eingeklemmt im Gully-Deckel-Loch. Die Vermutung: Die Ratte hatte sich ordentlich Winterspeck angefressen und steckte deshalb fest. Irgendwie sympathisch. Und dann kommt ein professioneller Tierretter, sieht das Tier und ruft einen Freund bei der Freiwilligen Feuerwehr Bensheim-Auerbach an. Sieben Mann rücken an, heben mit einer Stange den Kanaldeckel hoch, befreien die Ratte – und das Tier rennt zurück in die Kanalisation. Laura Kesselring, Mitarbeiterin bei der "Tierrettung Rhein-Neckar" sagt, das komme öfter mal vor, dass ein Tier in der Klemme sitze und sie und ihre Kollegen dann helfen.
"Es kommt schon öfter mal vor, dass wir irgendwie ein Tier haben, das irgendwo eingeklemmt ist. Und da fahren wir immer hin."
Ein Schwein, das sich im Zaun verfängt, eine Katze, die in einen Spalt rutscht, ein Dachs, der sich im Holz eingeklemmt hat – diese Situationen hat es schon gegeben. Und nun eben auch die Ratte im Gullydeckel. Für Laura Kesseling ist es keine Frage, dass die Rettung gerechtfertigt war. "Die hat da keinem weh getan, die hat da einfach nur gelebt und ist festgesteckt, und man kann doch nicht einfach vorbeilaufen – ob es eine Ratte ist, ob es ein Hund ist oder ob es ein Pferd ist, das ist doch komplett Wurst", sagt sie.
Eine Ratte retten, die eigentlich als Schädling gilt
Spielt es wirklich keine Rolle, ob wir einen Hund oder ein Pferd retten – oder eben eine Ratte? Eine Wanderratte ist in erster Linie ein Schädling, ein Tier, das in der Kanalisation lebt und Krankheiten übertragen kann. Es gibt viele Ratten in unseren Städten und sie werden bekämpft. Getötet mit Giftködern und Fallen. Was rechtfertigt eine so aufwendige Rettungsaktion für ein Tier, das dann wieder in die Kanalisation verschwindet. Und am nächsten Tag eventuell an einer Portion Rattengift stirbt?
"Was mich beeindruckt hat bei diesem Fall, ist, dass sich hier jemand nicht groß Gedanken gemacht hat, sondern einfach nach dem gehandelt hat, was wirklich wichtig ist. Und da zeigt sich für mich auch eine gewisse ethische Reife und gewisse Menschlichkeit, die ja oft vermisst wird."
Der Tierethiker Jens Truider arbeitet bei der NGO "Proveg", der Nachfolgeorganisation des Vegetarierbundes. Er sagt: Der entscheidende Unterschied zwischen der dicken Ratte im Gullydeckel und den vielen, unsichtbaren Ratten in der Kanalisation ist: Bei der Ratte im Gullydeckel sehen wir das Individuum. Es sei ein natürlicher Impuls – wenn wir ein anderes Individuum sehen, das unsere Hilfe braucht – dass wir dann dieses Leid lindern wollen. Allerdings sieht Truider auch, dass uns das teilweise in Konflikte mit anderen übergeordneten Vorstellungen bringt.
In anderen Kontexten lässt sich Ähnliches beobachten: Manche Leute halten Hausschweine als Haustier, essen aber trotzdem ein Schweineschnitzel zu Mittag. Und nicht jeder Fleischesser schaut gerne Filme aus Schlachthöfen, die detailliert zeigen, wie eine einzelne Kuh oder ein einzelnes Schwein per Bolzenschussgerät getötet wird.
Der Tierethiker Truider findet, dass wir Individuen im Alltag zu selten wahrnehmen: "Wir sehen nur die Gruppen, die Kategorien und haben unsere entsprechenden pauschalen Vorurteile wie eben Ratten sind Schädlinge, Schweine sind zum Essen da."
Bei der Ratten-Rettung in Bensheim kann man natürlich trotzdem über den Aufwand streiten: sieben Leute im Einsatz für eine Ratte. Die Kosten halten sich allerdings in Grenzen: 120 Euro, die die Freiwillige Feuerwehr selbst übernommen hat. Abgesehen davon ist die Feuerwehr zu solchen Einsätzen aber auch gesetzlich verpflichtet: Die Feuerwehren haben demnach die Aufgabe, Gefahren abzuwenden und Leben zu retten – und zwar nicht nur das von Menschen, sondern ausdrücklich auch das von Tieren.
Auf Facebook gibt es für die Rattenretter aus Bensheim vor allem Lob: Menschen aus aller Welt, aus China, Malaysia, Neuseeland oder Mexiko kommentieren und feiern die Retter als Helden. Tierretterin Laura Kesselring ist überrascht von den vielen Likes, Kommentaren und Journalisten, die bei ihr anrufen – und freut sich über die Werbung für die Berufstierrettung.
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