RadikalisierungMehr Verschwörungsgläubige und Aufrufe zu Gewalt bei Telegram
Julia Smirnova forscht seit Langem zu Hass und Desinformation im Netz. Ihre Beobachtungen bei den Corona-Leugnern und Impfskeptikern beunruhigen.
Seit Beginn der Pandemie beobachtet Julia Smirnova, dass die Zahl von Verschwörungsideologen und Impfskeptikerinnen steigt. Sie arbeitet für das Londoner Institut für strategischen Dialog (ISD) im deutschen Netz. Der Messengerdienst Telegram ist das Kommunikationsmedium für diese Menschen. Wie viele Kanäle bei Telegram genutzt werden, in denen Desinformation und Aufrufe zu Gewalt geteilt werden, ließe sich nicht genau beziffern. "Aber es gibt Hunderte davon, und die populärsten Kanäle haben Zehntausende Follower", sagt Julia Smirnova.
"In diesen Gruppen und Kanälen wird oft behauptet, dass die Pandemie eine Verschwörung von Eliten oder dass in Deutschland ein Staatsstreich erfolgt sei."
Zentrale Erzählungen der Corona-Leugnenden und Impfskeptiker*innen ist die Idee einer globalen Verschwörung: Die Pandemie sei eine von langer Hand geplante Strategie der Eliten, die hinter dem erfolgten Staatsstreich stünden. Deshalb sei unser Staat jetzt eine Corona-Diktatur oder ein Regime, gegen den jeder Widerstand legitim sei. Dem Staat und seinen Repräsentanten werden jegliche Legitimität abgesprochen. Diese Behauptungen bilden die Grundlage für die Rechtfertigung des Einsatzes von Gewalt.
"Seit dem Beginn der Diskussion über eine mögliche Impfpflicht hat sich die Rhetorik in den Querdenker-Kanäle nochmal verschärft."
Die Rhetorik der Querdenker-Szene habe sich seit der Diskussion um eine Impfpflicht verschärft. Es werde mit emotionalen Botschaften in den Kanälen gearbeitet. Demnach seien Covid-Skeptiker gerade in akuter Gefahr, weswegen gehandelt werden müsste, um sich gegen den faschistischen Staat zu schützen. "Wir haben in diesem Zusammenhang in Telegram-Kanälen Aufrufe gesehen, sich zu bewaffnen oder 3D-Drucker zu kaufen, um Waffen selbst herzustellen", berichtet die ISD-Analystin.
Spirale der Radikalisierung durch Wiederholen der immer gleichen Rhetorik
In dieser Rhetorik werden häufig Schlagwörter benutzt wie Söldner für Polizisten und Polizistinnen oder Giftspritze für die Impfung. Warum die Impfstoffe giftig seien, wird aber nicht erklärt, sagt Julia Smirnova. Andere häufig verwendete Begriffe sind: Corona-Diktatur, Genozid oder Staatspropaganda. Letzteres sei die Bezeichnung der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.
"Diese emotional aufgeladenen Begriffe werden so oft wiederholt, dass sie sich ins Gedächtnis einbrennen und nicht mehr hinterfragt werden."
Hinter der Verbreitung der Desinformation auf Telegram stecken sogenannte Power-User, sagt die Analystin. Sie haben Zehntausende Abonennten, sind auf mehreren Plattformen aktiv und posten mehrmals am Tag. Ein prominentes Beispiel ist der rechtsextreme Influencer Attila Hildmann. In seinen Kanälen und Chats teilt er regelmäßig antisemitische und rechtsextreme Inhalte. Auch der Österreicher Martin Sellner, Chef der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, ist so ein Power-User. Daneben haben in den Querdenker-Gruppen auch regionale Köpfe großen Einfluss auf die Mobilisierung vor Ort, sagt Julia Smirnova.
Weil auf Telegram kaum moderiert wird, tummelten sich dort viele Kriminelle und Extremisten, die von anderen Plattformen verbannt wurden.
"Rechtsextreme und verschwörungsideologische Akteure in Deutschland vertrauen Telegram und loben es sogar als zensurfrei."
Meist posten diese Power-User harmlose Beiträge auf anderen Plattformen - zum Beispiel über die Covid-19 Pandemie oder über die Flutkatastrophe im Sommer - und verlinken diese für weitere Informationen mit ihrem Telegram-Kanal. Die Gefahr bei Telegram sei auch, dass anders als bei Facebook oder Twitter, wo auch andere Posts oder Tweets im Nachrichtenfeed auftauchen, die Abonnenten und Abonnentinnen nur ihre Kanäle sehen und somit in ihrer Anti-Corona-Maßnahmen-Blase bleiben.
Veränderte Wahrnehmung der Realität
Dort werden sie dann zunehmend verfassungswidrigen, antisemitischen und rechtsextremen Botschaften ausgesetzt, sagt die ISD-Analystin.
"Je länger Menschen in diesen Gruppen bleiben, desto größer wird die Gefahr, dass sie diese Darstellungen als Realität verinnerlichen und sich radikalisieren."
Geteilt werden beispielsweise Videolinks von Plattformen, die im Unterschied zu Youtube diese extremistischen Inhalte nicht löschen, erklärt die ISD-Analystin. Außerdem würden Links zu Livestream-Seiten oder Gaming-Plattformen geteilt. "Aber keine dieser Seiten hat für die rechtsextreme Bewegung solche Bedeutung wie Telegram", sagt Julia Smirnova.
Konsequentes staatliches Handeln erforderlich
Um dieses Sammelbecken für extremistische Inhalte und Akteure auszutrocknen, müsse der Staat konsequent bestehende Gesetze anwenden und Telegram dazu verpflichten, diese Inhalte zu löschen, meint Julia Smirnova. Problem sei, dass der Telegram-Sitz in Dubai sei. Aber es hätte Fälle gegeben, bei denen terroristische Inhalte oder sogar welche von russischen Oppositionellen auf staatlichen Druck gelöscht wurden. "Das heißt, theoretisch ist es möglich", so Julia Smirnova.
Bei Aufruf zu Gewalt und Morddrohungen müsse die Staatsanwaltschaft effizient ermitteln, denn es gehe dabei nicht um die Plattform Telegram, sondern um konkrete Menschen, die mithilfe dieser Plattform Straftaten begehen.
"Sie dürfen nicht das Gefühl haben, dass sie sich in einem straffreien Rahmen bewegen und keine Konsequenzen fürchten müssen."